VERTRAUEN großgeschrieben
„Mein Sprung ins kalte Wasser“: Bernhard Wessling lässt China hautnah erleben
Irmtraud Gutschke
Es ist nicht das erste aufschlussreiche Buch über China. Was historische Betrachtungen und politische Analysen betrifft, reagiert der Buchmarkt durchaus auf die wachsende wirtschaftliche Bedeutung dieses Riesenlandes. Ebenso auf touristisches Interesse: Wer möchte nicht schon mal die Große Mauer ersteigen. Auch Bernhard Weßling hat das getan, als seine Marika bei ihm zu Besuch war, denn es war schon lange ihr Traum. Aber im Unterschied zu anderen währte sein Aufenthalt nicht Tage und Wochen, sondern sage und schreibe 13 Jahre, in denen er nicht bloß Zaungast sein konnte, sondern sich in eine zunächst fremde Umgebung einleben musste.
Das wollte er von Anfang an. In diesem Buch begegnet man einem Menschen, der besondere Begabungen vereint: Forscherdrang, Zuversicht, Mitmenschlichkeit. Als promovierter Chemiker hat er ein neuartiges Verfahren in der Kunststofftechnologie entwickelt und zum Patent gebracht. Es ging dabei um ein organisches Polymer, das elektrisch leitfähig ist, wichtig für die Herstellung von Leiterplatten, die eine lötfähige Oberfläche haben müssen. Dabei interessierte er sich aber auch fürs Praktische: die Produktion, die Vermarktung. Dass China ein wichtiger Markt sein würde, war ihm frühzeitig klar. Doch lief es irgendwann nicht so, wie erhofft. „Unsere Kunden wollten die Prozesse nicht so fahren, wie wir sie entwickelt hatten und beklagten sich dann über Qualitätsprobleme.“
Aber Weßling ist kein Mensch, der klagt. Schwierigkeiten reizen ihn sogar. Sich auf Ungewohntes einzulassen, was viele scheuen, solche Herausforderungen wünscht er sich geradezu. Und darin besteht auch der Zauber dieses Buches: Wie sich jemand aufs Neuland wagt. Aber nicht als Einzelkämpfer, sondern indem er sich mit anderen verbündet.
Ein Junge aus dem Ruhrgebiet, fünftes von sechs Kindern einer „armen, nicht reisenden Familie“, der von klein auf extrem neugierig war, sich auch als Erfolgreicher nie über andere erheben wollte. Gedeihliches Miteinander beginnt mit der Sprache. Also begann er Chinesisch zu lernen. Wie sich Beziehungen herstellten zu zunächst fremden Menschen, beschreibt er so, dass es einem selber beim Lesen gut tut.
Immer wieder kamen ihm Zufälle zu Hilfe. Er hat mit „Was für ein Zufall!“ unlängst ja auch ein physikalisch-philosophisches Buch „über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“ veröffentlicht. Dabei besitzt er wohl auch ein Gespür dafür, wenn aus Zufällen Chancen entstehen. Während eines zufällig beobachteten Fußballspiels in der Nähe seiner Wohnung in ShenZhen hat er einmal den erschöpften Torwart abgelöst, hielt die Bälle und fand bald eine Mannschaft, bei der er blieb. „Lăo Wèi“ nannten sie ihn, weil „Weßling“ schwierig auszusprechen war. Diesen Namen gab er dann seiner chinesischen Firma.
Die Stadt ShenZhen, wo er arbeitete, ist von Ost nach West fast 100 Kilometer lang. Im Süden grenzt sie an die Sonderverwaltungszone Hongkong und gilt als eine der am schnellsten wachsenden Metropolen der Welt. Schon 2005, als er dorthin kam, gab es dort nur noch Elektroautos. Staunen darf man bei der Lektüre über die „chinesische Dimensionen“, die viel mit der boomenden Wirtschaft zu tun haben. Aber meist dominiert die Nahaufnahme. Bei alltäglichen Situationen sind wir dabei – in einem chinesischen Krankenhaus und an einem Sonntagmorgen beim Zahnarzt. Wir bekommen Einblick in Familien, erleben ein chinesisches Neujahrsfest und beobachten mit dem Autor zusammen Rotohr-Bülbüls, Eisvögel, Schmetterlinge, Frösche, Fledermäuse, Glühwürmchen. Viele Fotos enthält der Band. „Ich liebe die Natur, das Meer, den weiten Blick, Bäume, Wellen, Vögel.“
China als Naturparadies: Wie gesagt hat Bernhard Weßling mit seiner Marika Reisen durchs Land unternommen, allerdings nicht, um Sehenswürdigkeiten abzuhaken, wie es Touristen tun, die in kurzer Zeit viel sehen wollen. Nach dem Motto „weniger ist mehr“ geht er’s ruhiger an. Auch an weniger bekannten Orten will er sich überraschen lassen – vom Weinbau in China oder von wilden Przewalski-Pferden. Eine besondere Freude war es für ihn, am Hochgebirgssee QuinHai Schwarzhalskraniche zu beobachten. Schließlich hat er sich auch in der internationalen Kranichforschung einen Namen gemacht, wie seinem Band „Der Ruf der Kraniche“ zu entnehmen ist.
China in der Weltpolitik: Konfrontation schadet uns allen. Ein Miteinander ist möglich und tut auch not. Aus nächster Nähe ergibt sich hier ein anderes Bild als es gemeinhin in westlichen Medien gezeichnet wird. „Merkwürdige Feststellungen in Büchern und Artikeln über China“ – das vorletzte Kapitel ist geradezu erheiternd. Interessant auch, wie wir „Westler“ von Chinesen gesehen werden und was es mit der sprichwörtlichen chinesischen List auf sich hat. Heute und auf lange Sicht kann es keine andere Möglichkeit geben, als mit China zusammenzuarbeiten. Bernhard Weßling hat erlebt, wie das im Einzelnen gelingt: durch Sorgfalt, Verlässlichkeit, Offenheit. Das Wort VERTRAUEN hat er groß geschrieben.
Bernhard Weßling: Mein Sprung ins kalte Wasser. Mit offenen Augen und Ohren in China leben und arbeiten. Verlag am Park, 401 S., br., 24 €.