Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Bernhard Weßling: Der Ruf der Kraniche

Tiere als Persönlichkeiten

„Der Ruf der Kraniche“ von Bernhard Weßling

Irmtraud Gutschke

Wie dieses Buch geboren wurde aus Forschergeist und Staunen, allein das schon ist der Bewunderung wert. Bernhard Weßling ist ein begnadeter Wissenschaftler, promovierter Chemiker, der sogar zum Unternehmer wurde. Diese Karriere wurde ihm nicht in die Wiege gelegt. Im verschmutzten Ruhrgebiet ist er in einer achtköpfigen Familie aufgewachsen. Als 14-Jähriger hat er mit seinem mühsam ersparten Teleskop in den Weltraum geschaut, voller Ehrfurcht und Furcht angesichts der Unendlichkeit des Universums. Als er im Wald eine bläulich schimmernde Feder fand, die eines Eichelhähers, begann er weitere Vogelfedern zu sammeln. Später schaffte er es zum Chemiestudium. Weil ohne finanzielle Mittel, meldete er sich zu einem schwierigen Arbeitseinsatz, um illegal abgelagerte Fässer zu bergen, die zu einem großen Teil Cyanidverbindungen enthielten. Da der Tümpel, in dem sie lagerten, schon durch Schwefelsäure kontaminiert war, konnte es zur Freisetzung von Blausäuregas kommen, was dann auch geschah. „Mein wochenlanger Studentenjob hat meine Haltung zum Umwelt – und später Naturschutz geprägt“, bekennt Bernhard Weßling, der immer wieder über die Wendungen seines Lebens staunt.

So wie er schreibt, hat man das Gefühl, als wäre man dabei gewesen: „Seltsame trompetende Rufe erschallten von irgendwo aus dem direkt vor uns liegenden Moor heraus. Wir hatten so etwas noch nie gehört und keine Vorstellung davon, was das sein könnte, aber es interessierte uns brennend … es mussten wohl Vögel sein, aber was für welche?“ „Der Ruf der Kraniche“ – Bernhard Weßling hätte dieses Buch nie geschrieben, wäre ihm im Naturschutzgebiet „Duvenstedter Brook“ in der Nähe von Hamburg nicht etwas widerfahren, das ihn packte, ja bezauberte. Später sah er die Kraniche. „Sie tanzten umeinander herum, schwangen ihre Flügel, sprangen elegant und federnd hoch, landeten ebenso tänzerisch und ließen bei ihrem Tanz kurze Laute hören…“ Mit solchem Staunen beginnt dieses Buch. Und es ist so geschrieben, dass wir dieses Staunen teilen können. Staunen über etwas Schönes – damit hat es begonnen. Und mit der Sorge um ein Kranichpaar, dessen Eier von einem Dieb gestohlen worden waren. Wie konnte man die Tiere schützen? Später leitete er ein Kranichschutzprogramm.

Ich griff umso interessierter zu diesem Buch, weil ich selbst eins geschrieben habe, das mit diesen grazilen Vögeln in Zusammenhang steht: „Das Versprechen der Kraniche. Reisen in Aitmatows Welt“. In Aitmatows Novelle „Frühe Kraniche“, die 1942/43, also während des Krieges, handelt, der von Deutschland vom Zaun gebrochen, Millionen Opfer in der Sowjetunion hatte, auch unter den Kirgisen, ist die Rückkehr der Kraniche aus dem Süden nicht nur ein Zeichen für den nahenden Frühling, sondern ein Hoffnungssymbol im weitesten Sinne. Ein Kapitel im Buch gilt auch den  Mythen über diese Vögel, die seit 60 Millionen Jahren auf der Erde leben, länger noch als die frühesten Säugetiere, und wie letztlich alle Vögel von Dinosauriern abstammen. Boten des Frühlings, kann man sie als Glücksbringer empfinden.

Während in Irland wie in England die Kraniche unter anderem durch intensive Jagd ausgerottet wurden, ist die Jagd auf sie in Spanien, Schweden und anderen europäischen Ländern seit Langem verboten. Da geht der Autor auch auf den erfolgreichen Schutz der Kraniche in der DDR ein. Die meisten der 7500 Brutpaare leben nämlich in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Da hatte er Glück, dass er bei seinem Spaziergang mit seiner Familie 1982 im Nordosten Hamburgs Kranichrufe hörte. Und wie das wohl überhaupt bei ihm ist: Aus der Faszination erwuchs Forscherdrang. Er wolle die „Sprache der Kraniche“ verstehen und sie auch einzelnen Tieren zuordnen können. Was dieser Ehrgeiz für einen Mann bedeutete, der ja auf einem anderem Gebiet voll beruflich eingespannt war! Wenn die Arbeit um acht beginnt, musste er Viertel Vier im Gelände sein – mit einem sehr leistungsfähigen Richtmikrofon, das er sich zu diesem Zweck kaufte, einem digitalen Aufnahmegerät nebst Minidisc. Durch häufiges Abhören und dann mittels Sonagraphie konnte er bald die einzelnen Tiere akustisch unterscheiden. Und mehr noch: erkennen, was ihre Rufe im Einzelnen ausdrücken sollten: Zugehörigkeit oder Abwehr, Lebensfreude oder Trauer. Eine besondere Bedeutung hat der „Duettruf“, mit dem Männchen und Weibchen gern morgens nach dem Aufwachen sich als Paar identifizieren und ihr Revier bestätigen. Sind Kraniche so monogam, wie ihnen nachgesagt wird? Oft, aber nicht immer. Auch dafür hat Bernhard Weßling Beweise.

Die meisten von euch werden noch nie tanzende Kraniche gesehen haben, ich auch nicht. Bernhard Weßling beschreibt, wie sie miteinander flirten, wunderbar. Es war ein windiger Morgen, regnerisch und noch dunkel, aber er harrte, inzwischen ziemlich steifgefroren, auf dem Hochsitz aus und wurde belohnt. Ein Kranichpaar, das er schon kannte, trat auf die Wiese. „Und nun ging der Tanz los … schließlich sprang er auf sie, ich hörte das stöhnende Ächzen, er sprang ab – und tanzte weiter! Nun noch schöner und intensiver als vorher. Die Sprünge waren weiter, sie ging gemessenen Schrittes neben ihm her. Dann aber blieb er auf einmal stehen, drehte ihr den Rücken zu, faltete seine Flügel auseinander und schaute zur Seite wie der Bundesadler … Wie ein Pfau präsentierte er sich … den Kopf hocherhoben… das Weibchen machte den Hals lang, stolzierte mit nach oben gerichtetem Schnabel etwa 15 Meter entfernt um ihn herum“, und er drehte sich „in Zeitlupe so, dass sie ihn stets in voller Breite und Schönheit erkennen konnte“.

Wie hat Bernhard Weßling diesen Anblick genossen. Dabei gab er ihm Rätsel auf. Hatte der Hahn womöglich eine Vorstellung, wie er aus Sicht der Henne aussah? Wenn ja, dann zeigt das doch die Fähigkeit, sich in ein anderes Individuum hineinzuversetzen. Etwas, möchte ich sagen, was auch für Menschen nicht immer selbstverständlich ist. Und wie schaffen es Kraniche, gemeinsam loszufliegen? Wie verständigen sie sich? Wie kommen Kranich-Paare mit Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten klar? Eindeutig verfügen sie über Emotionen. Für Bernhard Weßling haben sie eine Persönlichkeit. Zusammen mit dem Autor begreift man beim Lesen, wie Menschen  Tiere unterschätzen, die doch erhebliche Fähigkeiten haben, sich ihrer Umgebung anzupassen und Probleme zu lösen. Auch sie versuchen, ein erfülltes und schönes Leben zu leben. Da übersehen wir gern, „wie viel Intelligenz und Erfindungsgabe hinter dem Verhalten der Tiere und ihren Anpassungsleistungen steckt, wie viele ihrer erfolgreichen Verhaltensweisen sie auch erst mühsam, aber pfiffig erlernen mussten“.

Dabei sind mehr als die Hälfte aller Kranicharten in der Welt stark gefährdet, am stärksten der amerikanische Schreikranich, dessen weiße Federn ein beliebter Hutschmuck waren. Mit Zuchtprojekten allein wäre diesen Tieren nicht geholfen. Das Kunststück würde darin bestehen, sie wieder in die Wildnis zu entlassen. Wie aber bringt man Kranichküken, das Fliegen im Vogelzug bei? Um sie auf ihre Artgenossen zu prägen, trugen Tierpfleger in den USA Umhänge aus „Kranichgefieder“ und fütterten sie mit speziellen einem Kranichschnabel nachgebildeten Löffeln. Eine große Schwierigkeit bestand darin, Kranichen in Gefangenschaft die „Sprache“ ihrer Art beizubringen. Bei einer Konferenz in den USA wurde Bernhard Weßling gefragt, ob er sich mit seinen Tonstudien nicht in dieses Projekt einbringen könne. Es reizte ihn, aber: „Kann ich das zeitlich einbauen in meine geschäftliche Tätigkeit, meine chemische Forschung, mit der ich mein Geld verdiene“, fragte er sich. „Ich kenne das Gebiet doch gar nicht. Und meine Zeit für die Familie?“ Mit seinem „Okay, ich mach’s“ beginnt eine weitere abenteuerliche Geschichte im Buch, die sich dann auch nach Korea und Japan hin erweitert. In einem Ultraleichtflugzeug führte er schließlich einen Zug von Jungkranichen an …

Was mich bei diesem Autor fasziniert: wie er auf Herausforderungen reagiert, ja was er überhaupt als Herausforderung ansieht, um aktiv zu werden. Dass er zum ersten Mal auf Kranichrufe aufmerksam wurde, war ja ein Zufall. Auch seine chemischen Forschungen bis hin zur Entwicklung eines leitfähigen Kunststoffs hatten mit Zufällen zu tun, die er dann beim Schopfe packte. Und auch darüber hat er ein Buch geschrieben: „Was für ein Zufall!“, das viele Bereiche der Naturwissenschaft, der Philosophie und der Erkenntnistheorie berührt.

Bernhard Weßling: Der Ruf der Kraniche. Expeditionen in eine geheimnisvolle Welt. Goldmann.
411 S., geb., 20 €. Taschenbuch 12 €.

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