Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Arthur Ponsonby: Lügen in Kriegszeiten

Podcast:

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1166526.ndpodcast-luegen-in-zeiten-des-krieges.html

Die Wahrheit stirbt zuerst

Arthur Ponsonby hat sich detailliert mit der Propaganda im Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt

Von Irmtraud Gutschke

Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht das Nachbarland Polen. Der Zweite Weltkrieg begann. Auslöser war, viele werden es wissen, ein von der SS fingierter Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz, der Polen in die Schuhe geschoben wurde. Und Hitler schwang sich zu einer großen Rede auf: „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.“ Ein Weltenbrand begann. 

Bekannt ist das Zitat „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“. Es stammt, was ich vorher nicht wusste, von Arthur Ponsonby (1871-1946). Er war britischer Staatsbeamter, Politiker, Schriftsteller – und Pazifist. Er  gründete 1914 die „Union of Democratic Control“, um Verantwortung in der Außenpolitik einzufordern – gegen den Einfluss, den militärische Kreise noch immer auf Regierungen haben. Von 1934 bis 1937 war er Vorsitzender der „War Resisters‘ International“, einer bis heute aktiven  Internationale von Kriegsdienstgegnerinnen und -gegnern. „Lügen in Zeiten des Krieges“ hieß sein Buch, 1928 im Original erschienen. Der Westend Verlag hat es unlängst neu herausgebracht.

Es gibt darin einige grundsätzliche Bemerkungen zur Propaganda in Kriegszeiten, ehe sich detaillierte Beschreibungen von Lügen anschließen, die im Ersten Weltkrieg auf allen Seiten gang und gäbe waren. Der Autor macht deutlich: So ärgerlich Propaganda ist, so normal ist sie auch. Die Behörden müssen geradezu den „Feind als reinen Verbrecher darstellen, um die Leidenschaft des Volkes hinlänglich zu entfachen, um Rekruten für die Fortsetzung des Kampfes zu gewinnen“. Denn „die Moral der Zivilisten muss, genau wie die der Soldaten, aufrechterhalten werden“. Dafür müssen entsprechende psychologische Abteilungen gebildet werden. Damit die Menschen den Mut nicht verlieren, „müssen  Siege überhöht und Niederlagen, falls nicht vertuscht, um jeden Preis heruntergespielt werden, und Empörung, Entsetzen und Hass müssen durch ‚Propaganda‘ gewissenhaft und fortlaufend in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht werden.“

Die heutigen Möglichkeiten digitaler Medien gab es während des Ersten Weltkrieges noch nicht. Aber gefälschte Fotografien und Propagandafilme wurden bereits häufig genutzt. Da geht Ponsonby besonders auf einen Film ein, der russische Soldaten auf dem Marsch durch Großbritannien zeigt, bevor es ein Dementi des Kriegsministeriums gab. Geschichten über die Misshandlung von Gefangenen waren auf allen kriegführenden Seiten üblich. Und eine besondere Rolle spielte immer wieder die Unterstützung durch lntellektuelle und sonstige Berühmtheiten. „Der engstirnigste Patriotismus konnte edel erscheinen, die widerlichsten Anschuldigungen konnten als entrüsteter Ausbruch von Menschlichkeit dargestellt werden und die bösartigsten  und rachsüchtigsten Ziele konnten fälschlicherweise als Idealismus getarnt werden.“

Da führt der Autor eine Fülle von Beispielen an. Vom geheimen Bündnis mit Frankreich, das Großbritannien 1914 zum Einstieg in den Krieg zwang, hatten nur wenige eine Ahnung. Aber der Mord an Erzherzog Franz Ferdinand kam nicht aus heiterem Himmel. Bereits vorher hatte es darüber geheime Informationen gegeben. Der deutsche Einmarsch in Belgien, so der Autor, sei der britischen Regierung willkommen gewesen, um nationale Begeisterung zu wecken. „Wir ziehen in einen Krieg, der uns als Verteidiger der Schwachen und als Verfechter der europäischen Freiheiten aufgezwungen wird“, hieß es am 5. August 1914 in der „Times“.

So finden sich immer wieder im Buch Parallelen zum Heute. Was bei der Lektüre indes zunächst befremdet, ist die Positionierung des Autors, wenn er sich mit Propagandalügen gegen Deutschland auseinandersetzt. Besonders stutzte ich, als von einer deutschen „Leichenfabrik“ im Ersten Weltkrieg die Rede war. Damals mochte das eine Propagandaerfindung gewesen sein, in der NS-Zeit aber war die industrielle Massenvernichtung nun wirklich nicht mehr zu leugnen.  

Mit seinen Zweifeln bezüglich der alleinigen deutschen Schuld am Ersten Weltkrieg steht Ponsonby allerdings unter Historikern nicht allein und hatte in Lenin einen prominenten Fürsprecher. In seiner Deutung des Ersten Weltkriegs hat sich Lenin nämlich jeder nationalen Stellungnahme verweigert. Es war aus seiner Sicht ein von allen Seiten geführter imperialistischer Krieg, in dem es um Landeroberungen, Annexionen und Ausplünderungen fremder Völker ging.

Auf der Seite der großen Mächte gab es Gewinner und Verlierer. Eindeutig hat Deutschland Verluste erlitten. Was Großbritannien indes „zugefallen“ ist, listet Ponsonby auf Seite 152 auf. Das Britische Empire vergrößerte sich in Folge des Krieges um sage und schreibe 13 Millionen Quadratmeilen in Asien und Afrika. Und für die USA markierte der Kriegseintritt einen entscheidenden Schritt hin zur Rolle als Weltmacht. Die Vereinigten Staaten gingen aus dem Weltkrieg wirtschaftlich gestärkt hervor: In der Nachkriegszeit wurden die USA zum weltweit größten Gläubigerland und zur bedeutenden Handelsmacht.

Die Versenkung des Luxusliners „Lusitania“ 1915 mit 124 US-Bürgern an Bord war nur das Vorspiel zur Kriegserklärung an Deutschland am 6. April 1917 gewesen, gehörte aber zur inneren Mobilmachung. Dabei hatte der Hafenmeister von New York bestätigt, dass die „Lusitania“ große Mengen an Munition geladen hatte, die für Großbritannien bestimmt war. Kriegsmaterial in zivilen Objekten, deren Beschuss dann angeprangert werden kann – auch das kommt einem bekannt vor.

Deutscher Gaskrieg? Stimmt, aber auch die Alliierten „wetteiferten miteinander bei der Herstellung von Giftgas“, wie es im Buch heißt. Gelogen wurde überall. In Deutschland wurden die Verluste kleingeredet. Schuldlos fühlte man sich fremden Regierungen ausgeliefert. Die Zeitungen lockten mit Sensationen: Man habe versucht, in Metz einen Brunnen mit Pest- und Cholerabazillen zu infizieren, deutschen Soldaten seien in Belgien die Augen ausgestochen worden. Die üblichen Geschichten also. In den USA, so der Autor, wirkten sie besonders stark. „Spionageschichten gab es zuhauf, und diejenigen, die darauf drängten, dass Amerika in den Krieg eintrat, produzierten wirkungsvolle Filme.“

Wobei hinzugefügt werden muss, dass gerade in den USA in diesem Umfeld wissenschaftliche Untersuchungen zur Propaganda entstanden, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben. Ein Beispiel dafür ist das Buch von Harold D. Lasswell „Propaganda Technique in the World War“ von 1927, aus dem Arthur Ponsonby auch zitiert: „Die psychologischen Widerstände gegen den Krieg sind in modernen Nationen so groß, dass jeder Krieg als Verteidigungskrieg gegen einen bedrohlichen, mörderischen Angreifer erscheinen muss. Es darf keine Zweideutigkeit darüber geben, wen die Öffentlichkeit hassen soll. Der Krieg darf nicht auf ein Weltsystem zur Regelung internationaler Angelegenheiten zurückzuführen sein, auch nicht auf die Dummheit oder Bösartigkeit aller regierenden Klassen, sondern auf die Raffgier des Feindes … die ganze Schuld muss auf der anderen Seite der Grenze liegen …“

Auf prägnante Weise hat die belgische Historikerin Anne Morelli 2004 in ihrem Band „Die Prinzipien der Kriegspropaganda“ zu zehn Grundsätzen zusammengefasst. Der Westend Verlag hat sie auf den Umschlag von Ponsonbys Buch gedruckt, damit wir sie immer vor Augen haben.

1. Wir wollen keinen Krieg.
2. Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg.
3. Der Feind hat dämonische Züge.
4. Wir kämpfen für eine gute Sache und nicht für eigennützige Ziele.
Der Feind begeht mit Absicht Grausamkeiten. Wenn uns Fehler unterlaufen, dann nur versehentlich.
6. Der Feind verwendet unerlaubte Waffen.
7. Unsere Verluste sind gering, die des Gegners aber enorm.
8. Unsere Sache wird von Künstlern und Intellektuellen unterstützt.
9. Unsere Mission ist heilig.
10. Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.

Arthur Ponsonby: Lügen in Kriegszeiten. Kritische Betrachtungen. Aktuelle Neuausgabe des Klassikers zur Kriegspropaganda. Aus dem Englischen von Lena Gundrum und Charlyne Huckins. Westend Verlag, 175 S., br., 24 €.

Hier nochmal die Angaben zum Buch:

Arthur Ponsonby: Lügen in Kriegszeiten. Kritische Betrachtungen. Aktuelle Neuausgabe des Klassikers zur Kriegspropaganda. Aus dem Englischen von Lena Gundrum und Charlyne Huckins. Westend Verlag, 175 S., br., 24 €.

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