Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Armin Nassehi: Kritik der großen Geste

Wir sind keine Zinnsoldaten

Einst galt er manchen als „Meisterdenker“ der „Grünen“. Jetzt – vor dem Hintergrund schwindender Wahlerfolge – übt der Münchner Soziologe Prof. Armin Nassehi massive Kritik und hält sogar das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ für interessant.

Irmtraud Gutschke

„Kritik der großen Geste“: Umgeben von täglichem Geschrei und Gewese, hat das Beschwichtigende im Titel des neuen Buches von Armin Nassehi seinen Reiz. Und obwohl er nur knapp auf die „Grünen“ eingeht, spürt man beim Lesen, sie sind ebenso gemeint wie die Linken. Beziehungsweise überhaupt die Ampelkoalition, die den Leuten inzwischen schon ziemlich auf die Nerven geht. „Transformation“ als unvermeidliche Veränderung und als Programm: „Werden wir transformiert, oder „transformieren wir?“ Jedenfalls ist Transformation der „Anlass für die große und für die verpflichtende Rede, die gerne manchmal etwas Pastorales hat– und wie alles Pastorale auch Abwehr erzeugt, vor allem bei den Ungläubigen.“

Armin Nassehi, geboren 1960 in Tübingen, hat einen iranischen Vater, der zum Medizinstudium nach Deutschland gekommen war, und eine Mutter aus schwäbisch-katholischer Familie. Er wurde katholisch erzogen, ließ sich mit 18 taufen, promovierte 1992 in Soziologie mit „Die Zeit der Gesellschaft“ und habilitierte sich 1994 mit einer biographieanalytischen Arbeit über ehemalige Insassen sowjetischer Zwangsarbeitslager. Seit 1998 hat er den Lehrstuhl für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Seit 2012 ist er Herausgeber der Kulturzeitschrift „Kursbuch“, seit 2018 Mitglied im Stiftungsrat der Katholischen Universität Eichstätt. 2020 wurde er in den neu eingerichteten Bayerischen Ethikrat berufen, zu dessen stellvertretendem Vorsitzenden er im Februar 2021 gewählt wurde. Ebenfalls 2020 wurde er in den Senat der Deutschen Nationalstiftung berufen und gehört seitdem dem Beirat des Ethikverbandes der Deutschen Wirtschaft an.

Er ist also bestens vernetzt und dürfte mit seinen Publikationen durchaus auch auf ein Publikum zielen, das man „Elite“ nennt. Wenn ich seine Bücher lese, zuletzt „Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“ (C.H.Beck, 2021), dann eingedenk der Unterschiede in unseren Prägungen. In der Zeit des Kalten Krieges befand er sich auf der anderen Seite, weshalb es mich nicht wundert, dass er heute in  Russland, wie so viele Westdeutsche, eine Bedrohung sieht. Und wenn er die „große Geste“ kritisiert, vermag er sie selbst doch hin und wieder publikumswirksam einzusetzen. Dabei wird er aber auch gehört. Dass Wortmeldungen von ihm mediales Echo finden, kann man insofern nur begrüßen. Er ist ein kluger Mann, der Freude daran hat, in großen Zusammenhängen zu denken und dabei mit Sprache zu spielen.

Er habe „die Führung unter den deutschen Intellektuellen übernommen“, hieß es in der TAZ, wo er (auch wie vorher in der  „Zeit“) als „Meisterdenker der Grünen“ bezeichnet wurde. Nassehi biete den theoretischen Überbau „jener Partei, die insgeheim davon träumt, die neue CDU zu sein“. Wobei er jetzt in einem Interview für den „Freitag“ erklärt, warum ihm der Gedanke einer schwarz-grünen Perspektive einst interessant erschien: „weil man da zumindest verschiedene Milieus zusammenbringen kann“.

„Denkt über Bündnisse von Akteuren mit unterschiedlichen Systemlogiken nach. Gründet Orte dafür, Foren, in denen sich die unterschiedlichen Logiken gegenseitig verunsichern können und wo auch die Übersetzungskonflikte hart ausgetragen werden können.“ Diese Aussage in der TAZ lesend, könnte man fast an die „Runden Tische“ in der DDR denken. Und im Buch kommt uns der Autor sogar mit Karl Marx‘ berühmtem Zitat aus der „18. Brumaire“ von 1852 entgegen: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“

Diese Umstände nicht zu vernachlässigen zugunsten eines  illusionären Voluntarismus, redet Nassehi uns ins Gewissen.  Wobei  praktische Politik und mehr sogar noch die Kommunikation schon dermaßen eingeübt ins Aufrufen und Appellieren sind, dass sie sich gleichsam in einem permanenten Erregungsmodus befinden. Der kann von den Adressaten durchaus mental gespiegelt werden – und sei es aus Mangel an sonstiger Aktivität.

 „Auch an multiple Krisen, an Transformationsaufforderungen und an Zeitenwenden kann man sich gewöhnen.“ Vielleicht steckt in diesem etwas lapidaren Satz fast alles, worum es in diesem Buch geht. „Dass es Gewöhnungseffekte gibt, Trägheiten in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, Wiederholungen und Festhalten am Bewährten, kann einen Soziologen kaum erstaunen.“ Ebenso wie es wohl nicht erstaunen kann, dass „Aktivisten“, wo immer sie auch agieren, an derlei Trägheiten stoßen.

Jenen, die sich diese Gegenreaktion durch Verstocktheit, mangelnde Bereitschaft oder falsche Glaubenssysteme der Adressaten erklären, schreibt Nassehi ins Stammbuch: „Systeme sind stabiler, träger als ihre Umwelt. Diese Trägheit ist genau genommen die Ordnungsleistung von Systemen, die nur deshalb dauerhaft bestehen können …“ Trägheit als „struktureller Schutzmechanismus“, der all die starken Transformationsnarrative und Geltungsansprüche auf Veränderung an sich abprallen lässt.

Und es ist nicht nur Trägheit, es sind auch Gegenfragen, die dieses Buch aufgreift. Denn: „Was bringt all das Wissen um die Dringlichkeit von Veränderungsbedarf, um existenzielle Problem zu lösen, wenn der ausgedachte Lösungsweg selbst existenzielle Gefahren heraufbeschwört? Wie kann man mit demokratischen Mitteln Dinge politisch durchsetzen, die für Viele zunächst unplausibel erscheinen? Wie kann man ganze Ökonomien verändern, während sie ökonomisch überleben müssen? Und wie kann man Lebensformen ändern, deren Alltagssorge vor allem darin besteht, kontinuierlich zu bleiben?“

Darin hatte Soziologie übrigens schon zu DDR-Zeiten einen Vorzug gegenüber anderen Zweigen der Gesellschaftswissenschaft: dass sie  vom Gegebenen handelt und nicht vom Wünschenswerten. „In der Klimakrise wird lang und breit diskutiert, dass wir alle unser Mobilitätsverhalten, unsere Ernährungsgewohnheiten, unseren Energieverbrauch und unseren Konsumstil ändern sollen“– man beachte: Nassehi stellt sich verbal auf die Seite der Adressaten, die man eben nicht wie Zinnsoldaten hin und herschieben kann. Vor allem aber will er verstanden wissen, dass eine Gesellschaft nicht so einfach kollektiv agieren kann, weil sie eben kein Kollektiv ist, sondern gerade in ihrer gegenwärtigen Ausprägung eine starke  Differenziertheit aufweist.

„Man kann ein Heizungsgesetz beschließen, Tempolimits fordern, Technologien präferieren oder abschaffen, unerwünschtes Verhalten oder unerwünschte Pollutionen bepreisen, Abgaben erhöhen oder senken, kollektive Ziele ausgeben (etwa die Pariser Klimaziele), alles diesem Ziel unterordnen und dies kollektiv bindend organisieren  – und verliert dann Massenloyalität und Wählbarkeit.“ Genau das passiert nämlich abseits der sich selbst verhimmelnden grünen Blasen in den Großstädten.

Dieses Sich-Selbst-Genügen und diese Blindheit für die vielfältigen  Folgen, die eine Entscheidung auf anderen Gebieten der Gesellschaft nach sich zieht! Da geht Nassehi auch mit den staatlichen Corona-Regulierungen ins Gericht und andererseits mit der AfD, die mit pauschaler „Elite“-Kritik zu punkten versucht.

„Vielleicht gehört dies tatsächlich zu den strukturellen Schwächen der Demokratie, dass sie einerseits ‚dem Volk‘ verspricht, selbst zu herrschen, dieses aber andererseits erleben muss, dass es nicht das bekommt, was ihm versprochen wurde.“ Dass kollektivistische Modelle wie in China (wie in seinem vorigen Buch „Unbehagen“, setzt er sich mit dem chinesischen Philosophen Zhao Tingyang auseinander) im auf Individualismus getrimmten Europa kaum durchsetzbar wären, ist ebenso einleuchtend wie der Hinweis auf die Schwächen meritokratischer Regierungsformen überhaupt.

Kaum zu widersprechen ist der Ansicht, dass eine „pluralistische Demokratie durch Mehrparteienformen, durch Konkurrenz unterschiedlicher politischer Programme, durch alternative Lösungsstrategien in der Lage ist, das politische System mit alternativen Lösungen zu versorgen, zwischen denen man entscheiden kann.“ Was aber voraussetzen würde, dass die Entscheidungsalternativen zu den heute entstehenden neuen Problemlagen und Konflikten passen.

Klare Ansage in Richtung Politik: „Das Gespenst des Populismus und der Vereinfachung, der autoritären Zumutungen und nicht zuletzt der Empfänglichkeit für Ressentiments wird man weniger durch Aufklärung los, sondern durch Nachweis von Problemlösungskompetenzen.“ Leichter gesagt als getan in einem komplizierten Geflecht von Interessen, in dem Meinungen mit einer Energie aufeinanderprallen, als würde sich dadurch irgendwas verändern.

Es kommt wohl auf die eigene Befindlichkeit an, ob man sich von Meinungen schon bestärkt fühlen kann, wenn man sie teilt, oder ob man, wie Nassehi, dabei das Nachdenken darüber vermisst, wie Probleme gelöst werden können. Ein Pragmatismus, den ich verstehe. Wobei ich Nassehi auch dankbar bin, wie er sich explizit gegen die heute grassierende Meinungspädagogik mit ihren Geboten und Verboten wendet. Dass da eine Überhebung, eine Übergriffigkeit stattfindet, wenn, wie Nassehi sagt, Menschen an ihrer Ehre, ja ihrer Würde gepackt werden, muss dringend Gegenrede erfahren.

„Man imaginiert sich eine Welt als Wille und Einstellung.“ Was eben schlicht realitätsvergessen ist.

„Kulturelle und ökonomische Abstiegsängste sind die entscheidende Währung für politische Ansprache“, gerade weil die sogenannte „‚Transformation‘ erhebliche verteilungslogische Folgen hat und also entsprechende Sorgen auslöst.“

„Die Klimafrage wird politisch nur dann erfolgreich beantwortet werden können, wenn zugleich damit auch die soziale Frage verkoppelt wird. … Wer diesen Zusammenhang aus dem Blick verliert, muss scheitern.“

Also Vernunft und soziale Gerechtigkeit? Aufmerken darf man, wenn Nassehi „die Gründung der Wagenknecht-Partei im Frühjahr 2024 zumindest unter logischen Gesichtspunkten“ einen „Coup“ nennt. „Ob das politisch Erfolg haben wird, ist noch offen, aber würde man derzeit in der Retorte einen politischen Akteur erfinden, der mitnehmen will, was andere liegen lassen, käme man wohl auf so etwas Ähnliches. Zumindest aufmerksamkeitsökonomisch ist diese Partei aus der Retorte ein logisches Angebot: Sie verbindet verteilungspolitische mit anerkennungspolitischen Kategorien, käme dann also sozialpolitisch linken und anerkennungs-/zugehörigkeitspolitisch rechten Erwartungen entgegen und bedient im Hinblick auf die Pandemie und militärpolitische Fragen das stärker gewordene ‚systemkritische‘ Milieu.“

Armin Nassehi: Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken. C.H. Beck, 224 S., br., 18 €.

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