Die Retterin des Künstlers
Aus der Feder einer selbstbewussten Frau: „Mein Leben mit Dostojewski“ von Anna Dostojewskaja
Er war 24 Jahre älter als sie, doch sie war alles andere als ein kleines Dummchen. Anna Grigorjewna Snitkina aus begüterter und gebildeter Familie war unter den ersten gewesen, die das neugegründete Mädchengymnasium in St. Peterburg besuchten. Sie begeisterte sich für Naturwissenschaften, merkte aber bald, dass ihre Liebe der Literatur gehörte. Dass sie im Knabengymnasium einen Kurs für Stenographie belegte, erwies sich als schicksalhaft. Ihr Lehrer vermittelte ihr eine Anstellung. Nicht bei irgendwem, sondern bei dem großen Dostojewski, dessen Werke Anna wohl kannte, von dessen Nöten sie indes nichts wusste. Was sie aber vor allem reizte, war die Aussicht auf Unabhängigkeit. Eigenes Geld verdienen, auf eigenen Beinen stehen.
Als selbstbewusste Frau tritt uns Anna Dostojewskaja in ihren Erinnerungen entgegen – und als eine überaus sprachbegabte. So lebendig weiß sie von ihrer Kindheit und Jugend zu erzählen, dass man die Petersburger Gesellschaft von damals vor sich sieht. Vor allem aber liest man das Buch als ergreifenden Roman einer Künstlerehe, die wir als ungleich empfinden müssen, allein schon wegen des Altersunterschieds, in der aber in entscheidenden Augenblicken die Frau die Stärkere ist und das auch weiß. Schon als sie als die 20-Jährige am 4. Oktober 1866 das erste Mal mit Dostojewski zusammenbetraf, wurde ihr bei aller Bewunderung klar, dass er krank war – er gestand ihr, an Epilepsie zu leiden. Und er hatte Schlimmes hinter sich: Einer Scheinhinrichtung, weil er dem revolutionären Petraschewski-Zirkel nahestand, folgten vier Jahre Zwangsarbeit. Immer war er in finanziellen Nöten. Nach dem Tod seines älteren Bruders Michail, so bekennt er Anna, hat er die Schulden der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Wremja“ übernommen: 3000 Rubel. Die bekam er von seinem Verleger für die Rechte an einer dreibändigen Ausgabe und für einen neuen Roman, „Der Spieler“, der unter höchstem Zeitdruck fertig werden musste. Ohne seine Stenotypistin hätte er es nicht geschafft.
„Im Stillen war ich sehr stolz, dass ich dem geliebten Schriftsteller nicht nur bei der Arbeit half, sondern auch seine Stimmung wohltuend beeinflusste“, schreibt Anna, die für Dostojewski.. Dass er sie wirklich brauchte, es war wohl dieses Gefühl, das sie zusammen mit ihrer Bewunderung für ihn einnahm. Sie heirateten am 15. Februar 1867. Im Buch erzählt sie, wie zwei junge begüterte Männer vorher um sie angehalten hatten und wie Dostojewski sie bezauberte. Wie er sich ihr auf überraschende Weise öffnete, verstand sie, dass er sie wirklich brauchte. Sie wählte das Leben seiner Retterin.
„Fjodor Michailowitsch vertraute mir ständig seine Sorgen an … Ich war ihm für seine Offenheit dankbar und dachte mir Verschiedenes aus, um die ihn besonders quälenden Schulden zu verringern.“ Aber Verwandte und Gläubiger setzten ihm zu; er arbeitete in ständiger Zeitnot. Und das meist nachts. Der Unterschied in ihrem Lebensrhythmus bedrückte sie. Und außerdem waren ständig Gäste im Haus. Plötzlicher Jähzorn erschreckte sie, dann wieder tat ihr seine Fürsorge gut. Ein ständiges Wechselbad der Gefühle – so hielt er sie fest mit ihrer Liebe, ihrem Verantwortungsgefühl.
Eine Reise ins Ausland würde ihnen beiden Befreiung bringen, meinte sie und verpfändete ihre Aussteuer. Was für dramatische Szenen spielen sich da vor unseren Augen beim Lesen ab! Anna Dostojewskaja berichtet von einem „glücklichen Lebensabschnitt“, aber ihr Mann beleidigt sie. Überhaupt gibt es immer wieder Situationen, da er sich abfällig über Frauen äußert. Und das schlimmste: „Der Spieler“, mit dem ihre Bekanntschaft begann – das war er doch selbst! Schon in dem Roman „Dostojewski in Baden-Baden“ von Leonid Zypkin, der eigentlich auf diese Erinnerungen zurückgeht, war davon zu lesen, wie sie sich darum quälte, dass er das letzte bisschen Geld, das sie hatten, immer wieder verlor. In der Hoffnung, dass er „mit seiner Methode“ im Roulette gewinnen würde. „Ich musste mich damit abfinden und die Spielsucht als eine Krankheit sehen … Niemals warf ich meinem Mann die Verluste beim Spiel vor, niemals stritt ich mit ihm aus diesem Anlass …“
Sie wurde schwanger. Ihr erstes Kind, Sofia, (genau beschreibt sie die Geburt) starb nach drei Monaten. „Wir glaubten beide, unseren Kummer nicht ertragen zu können. Ohne uns auch nur eine Minute zu trennen, gingen wir zusammen zwei Tage lang zu den verschiedenen Behörden, um die Erlaubnis zu erwirken, unsere Kleine zu bestatten.“ Das war in Genf. Bald reisten sie weiter nach Mailand. Sie wurde wieder schwanger. In Prag fanden sie keine Bleibe und zogen nach Dresden. Wieder Geldsorgen, wieder vergebliche Hoffnung auf das Roulette.
Rückkehr nach Russland 1871. Der Roman „Die Dämonen“ erscheint. Ihre Besitztümer, die sie den Verwandten übergeben hatten, waren verloren oder versetzt. Wieder verfolgen sie die Schuldner des Bruders. Anna nimmt hinter dem Rücken ihres Mannes den Kampf auf. Der damalige Literaturbetrieb war wohl ähnlich ungerecht wie der heutige: „Während die begüterten Schriftsteller (Turgenjew, Tolstoi, Gontscharow) wussten, dass sich die Zeitschriften um ihre Romane rissen, und sie fünfhundert Rubel für einen Druckbogen bekamen, musste der mittellose Dostojewski seine Arbeiten den Zeitschriften selbst anbieten, und da der Anbietende stets im Nachteil ist, erhielt er bei denselben Zeitschriften bedeutend weniger.“
Noch drei Kinder hat Anna geboren. Ljubow, geboren 1869, brach sich den Arm, der wuchs schief zusammen und musste in Petersburg nochmals gebrochen werden, während der Säugling Fjodor in fremder Obhut im Sommerhaus blieb. Währenddessen starb Annas Schwester. Wie das der Mutter beibringen? Dann wurde auch sie selbst schwer krank und fürchtete um ihr Leben. Immer wieder Schwierigkeiten. Kämpfe um Honorare und Vorschüsse. Wie früher schon diktierte Dostojewski seiner Frau seine Texte. Es entstanden „Der Jüngling“, „Die Sanfte“, „Die Brüder Karamasow“.
Wie alle Künstler gierte wohl auch Dostojewski nach fremdem Zuspruch und bekam ihn gerade von seinen Kollegen oft nicht, die mit ihren eigenen Dingen befasst waren. 1878 starb der jüngste Sohn Aljoscha starb mit nur drei Jahren an unerklärlichen Krämpfen, von denen man ihn heute wahrscheinlich hätte heilen können. Ein Jahr später wurde bei Dostojewski ein Lungenemphysem festgestellt. „Mein Täubchen“, schreibt er aus Ems, wo er sich zur Kur befand, „auch denke ständig an meinen Tod … und daran, was ich Dir und en Kindern hinterlasse.“ Es war in der Tat lebensbedrohlich. Zwei Stunden vor seinem Tod am 9. Februar 1881 hat er die Kinder noch einmal zu sich gerufen und verfügt, dass Fedja sein Evangelium erhalten sollte, das er in Tobolsk auf dem Weg in die Zwangsarbeit von Dekabristenfrauen geschenkt bekommen hatte.
Doch mit Dostojewskis Begräbnis ist das Buch noch nicht zu Ende, denn Anna Dostojewskaja sah sich ja in der Pflicht, das Erbe ihres Mannes zu hüten. Eine Frau, wie sie sich wohl alle Schriftsteller wünschen: Geliebte, Muse und treusorgend wie eine Mutter. Wie eine Löwin verteidigt sie sein Andenken. Dieses Buch der Erinnerungen, an dem sie 1910, 29 Jahre nach seinem Tod zu arbeiten begann, gehört dazu. Wer immer später über Dostojewski schrieb hat sich daraus bedient. Es ist eine lebendige, detaillierte Erzählung, die uns das Bild des berühmten Schriftstellers vor Augen rückt, gezeichnet von der Frau, die ihn liebte. Ob sie etwas weggelassen oder hinzugefügt hat? Wie auch immer, was hätte aus Dostojewskis Talent werden können, überlege ich, ohne den ständigen Druck der Geldsorgen!
Anna Dostojewskaja: Mein Leben mit Fjodor Dostojewski. Erinnerungen. Aus dem Russischen von Brigitta Schröder. Aufbau Verlag. 564 S., geb., 26 €.