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Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Alexander Rahr: Anmaßung

Erwartungen, Enttäuschungen

„Rettet die deutsch-russischen Beziehungen“: Alexander Rahr geht einem schwierigen Verhältnis auf den Grund

Von Irmtraud Gutschke

Deutschlands Umgang mit Russland – daran scheiden sich die Geister. Die einen reden von „Eindämmung“, die anderen von notwendigem Zusammenwirken. Dass von guten Beziehungen zwischen beiden Ländern „die künftige Friedensicherung auf dem europäischen Kontinent abhängt“, meint nicht nur Gabriele Krone-Schmalz, die das Vorwort zu diesem Buch geschrieben hat. Für Alexander Rahr ist es „ein Schrei des Verzweifelten“.  „Rettet die deutsch-russischen Beziehungen“. Es wird genügend Leser geben, die darin einstimmen. Wie sich die deutsche Politik gegenüber Russland zum Schlechten verändert hat, ist in der Tat besorgniserregend.

Dabei hatte es 1990 die Hoffnung auf ein europäisches Haus gegeben, auf einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zwischen Lissabon und Wladiwostok. Doch das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU mit Russland ist seit Jahren auf Eis gelegt, und seit Juli 2019 gab es zwischen Vertretern Russlands und der Nato keine Gespräche mehr. Wenn Bundesaußenminister Maas Möglichkeiten eines künftigen Dialogs nicht ausschließt, beteuert er im gleichen Atemzug, dass  die „russische Aggression und Desinformation“ einer  „geschlossenen Antwort der Nato“ bedürften. So weit wie Biden, der Putin kürzlich als Mörder bezeichnete, würden deutsche Politiker nicht gehen, doch sie übernehmen praktisch sein Feindbild. Nach einer kurzen Pause, als Gorbatschow und Jelzin dem Westen Machtgewinn verschafften, ist der Kalte Krieg wieder aufgeflammt. Die Sowjetunion zog ihre Truppen ab, aber die USA blieben bis heute mit ihren Atomwaffen auf deutschem Boden. Die Nato hat sich längst bis auf das Territorium der einstigen Sowjetunion ausgedehnt. Der Spielraum eigenständiger deutscher Politik, so überhaupt angestrebt, ist eng. Und die EU muss mit der Russophobie aus Osteuropa leben.

In dieser verfahrenen Situation ist dieses Buch indes mehr als ein Verzweiflungsschrei und geht auch immer wieder über das hinaus, was wir zum Thema schon wissen. Alexander Rahr, 1959 in Taiwan geboren und in einer russischen Emigrantenfamilie in Westdeutschland aufgewachsen, bringt da noch Gesichtspunkte ein, an die man im Osten nicht dachte. Dass Russland, geprägt durch die byzantinische statt durch die weströmische Tradition, seit dem Schisma von 1054 für den Westen als „ein Fremdkörper“  galt, den man zu „zivilisieren“ trachtete, scheint sich jetzt wieder zu zeigen. Wobei ich angesichts der belehrenden Herablassung gegenüber Russland eher an jüngere Vergangenheit denke: an das antikommunistische Erbe aus NS-Zeiten, das, in der BRD, nur oberflächlich überwunden, in der Tiefe fortlebt. Merken die betreffenden Politikerinnen und Politiker denn nicht, wie peinlich sie wirken in ihrer naiven Überheblichkeit, wie sie, auf ihre moralische Werteskala pochend, selber moralische Werte verletzen, nicht nur im diplomatischen, sondern auch einfach im zwischenmenschlichen Sinne. Wer Beleidigungen ausspricht, kalkuliert die Gegenreaktion schon ein, ja will sie vielleicht sogar.

Dass Russland sich vom Westen „nicht belehren“ lässt, wie Alexander Rahr schreibt, trifft auf die schier unglaublichen Borniertheit von Leuten, die „Russlandversteher“ zum Schimpfwort gestempelt haben.  „Anmaßung“ eben, wie der Titel des Buches sagt. „Ja: Man will Russland aus der Barbarei in das fortschrittliche, aufgeklärte Europa überführen. Doch nein: Über eine unterschiedliche russische Weltsicht oder die besondere russische Interessenlage etwas zu erfahren, ist in Deutschland für die Wenigsten von Belang.“  Dass Deutschland dadurch sein Ansehen bei den Russen verspielt, tut dem Autor besonders weh, weil er sich zwischen diesen beiden Völkern fühlt. Mit seinem Buch will er Aufklärung leisten – auf überraschend vielstimmige Weise.

Dass da Russinnen und Russen nur unter ihren Vornamen zu Wort kommen, hatte für mich zunächst etwas Irritierendes. Wer waren Anna, die Coachin, Alewtina die Konflikt- und Jewgenija, die Meinungsforscherin? Wie sollte ich den wehrhaften Diplomaten  Volodja, den standhaften Patrioten Mischa, den „Deutschlandversteher“ Alexei und den „interkulturellen Kämpfer“ Peter denn vor mir sehen? Bald aber verstand ich, dass es sich hier nicht um Porträts, sondern um ein Meinungsspektrum handelt. Dafür hat Alexander Rahr Aussagen verschiedener Personen zusammengestellt, die er kennt, die nicht fiktiv, aber anonymisiert sind, wie er bekundet. Sei’s drum, es ist interessant, im Pauschalurteil auch manchmal kurios. „Der Russe hat eine tiefere Einstellung zum Leben, er leidet, während der Deutsche pragmatisch lebt“, heißt es da. Gelobt werden „Pünktlichkeit, Disziplin, Wahrheitsliebe, Selbstsicherheit, Unabhängigkeit“ der Deutschen. Allerdings gelten sie als humorlos und überheblich in der Art, wie sie heute den „westlichen Liberalismus als einzig tragbares Gesellschaftsmodell in der Welt propagieren“, so wie sie früher die Welt „beglücken“ wollten „und in Wirklichkeit die menschliche Zivilisation fast ruinierten“.

Aufschlussreich, wie Alewtina, die Konfliktforscherin, einen geschichtlichen Bogen schlägt von Peter I. bis zur heutigen transatlantischen Orientierung der deutschen Eliten. Dass die russische Seite jetzt „auf stur geschaltet hat“, ist verständlich , aber auch fatal. Dass Putin doch „germanophil“ sei, bekundet Volodja, der Diplomat. Die ausgestreckte Hand sei ausgeschlagen worden. Die Sanktionen seien weniger schädlich als die Demütigung, sagt die Meinungsforscherin Jewgenija. Dass Deutschland als „hochentwickelte Demokratie“ gilt und viele junge Russen gern dort leben würden wegen besserer Karrierechancen und sozialer Absicherung, mag einen durchaus auf den Gedanken bringen, dass in der geopolitischen Konkurrenz zuerst der Wohlstand im eigenen Lande zählt. Aber ist das wirklich so? In den USA leben 13 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, in Russland 12,3 Prozent. In Deutschland sind 15,9 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht, wobei dies eine Aussage nach hiesigen Standards ist, getragen von der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit.   

Man möchte sich zum Band noch einen Analytiker hinzudenken, der die Vorwürfe gegen Russland als das entlarvt, was sie sind: mediale „Waffen“, um das eigene System zu verteidigen. Dass dessen Werte so einfach exportiert werden könnten, glaubt doch niemand im Ernst. Es ist ein machtpolitischer Kampf mittels Wirtschaftssanktionen und Propaganda vor dem Hintergrund wachsenden  Rüstungspotenzials als Drohkulisse. Dass Russland sich als eigenständiges Machtzentrum behaupten würde und eine Allianz auch Deutschland zugutekäme, muss US-amerikanischen Interessen zuwiderlaufen. Der Übergang von einer monopolaren zur multipolaren Weltordnung lässt überall Konflikte aufflammen. Da kommt die neue Weltmacht China im Band nur beiläufig vor. Wie gegen Schluss ein rätselhafter Fremdling Russland vor einer Gefahr aus Asien warnt und auf Rhodos die möglichen Nachfolger von Putin und Merkel in einen klugen, offenen Wortwechsel treten, fühlt man sich an Alexander Rahrs Thriller „2054“ erinnert.

„Dass Deutschland irgendwann einmal die amerikanische Schutzmacht gegen eine russische umtauscht, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, sagt der Deutsche. Hinzuzufügen wäre,  dass Schutzmächte nicht uneigennützig sind. „Um Kohl für weitere Hilfsleistungen freundlich zu stimmen, lieferte der Kreml … Honecker aus“, sagt Volodja, der Diplomat. Das war indes nur die Spitze des Eisbergs. Wie viele DDR-Bürger mit der Freundschaft zur Sowjetunion im Herzen wurden auf dem Wege zur deutschen Einheit, die Gorbatschow sich als Verdienst anrechnete, im Regen stehen gelassen. Selbstständigkeit in der Westpolitik gestand er der DDR nicht zu, die er selbst als seine Verhandlungsmasse sah. Freundschaft hin oder her, im Zweifelsfall galt das eigene Interesse. Seine Partner waren BRD und USA. Mehr noch als auf die Deutschen habe sich die neue russische Politikkaste damals nach Übersee orientiert, so Alexej, der „Deutschlandversteher“. „Vermutlich wollte Moskau selbst aus Prestigegründen seine Probleme nur auf Augenhöhe mit der wichtigen Supermacht USA lösen, um seinen eigenen Stellenwert hochzuhalten.“

Prestige und Stellenwert: Das Buch lesend begreift man, wie hoch solche emotionalen Gesichtspunkte in der Weltpolitik doch veranschlagt werden und wie fatal es ist, das größte Land der Erde in seinem Selbstverständnis zu beleidigen. Wobei Größe auch derjenige zeigt, der sich schlichtweg nicht beleidigen lässt, der nicht Gleiches mit Gleichem vergilt. Leicht gesagt. Wenn Erwartungen zu Enttäuschungen werden, bleibt ein Schmerz zurück.

Alexander Rahr: Anmaßung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt. Mit einem Vorwort von Gabriele Krone-Schmalz. Das Neue Berlin, 173 S., br., 16 €.

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1 Kommentar

  1. Christina Graupner 10. Mai 2021

    Sehr geehrte Frau Gutschke,

    ich habe mit großem Interesse Ihr Gespräch mit Alexander Rahr verfolgt. Einige Gedanken möchte ich Ihnen mitteilen. Ich habe gestutzt, als er im Fall Nawalny die Aufnahmen aus Omsk als Beleg für eine Vergiftung anführte. (Vielleicht habe ich auch etwas falsch verstanden.) Diese Wertung kann ich nicht nachvollziehen. Es ist bis jetzt ein Verdacht. Fotos allein besagen doch gar nichts. Beweiskräftige Informationen, z. B. den Befund aus der Charite, verweigert die Bundesregierung. Stattdessen Unterstellungen ohne Ende und die Gegenseite wird bis zur Unerträglichkeit diskreditiert.
    Was die feindselige Haltung der Staaten Estlands, Lettlands und Litauens betrifft, meine ich, daß unbedingt auch die Herkunft der neuen politischen Elite eine Rolle spielt. Sie kam aus dem westlichen Exil und war dementsprechend geprägt.
    Kaum bekannt dürfte sein, daß der sogenannte „Blutsonntag von Vilnius 12./13. Januar 91“ Ähnlichkeit mit dem Maidan-Putsch Jahrzehnte später in Kiew hat. Ein Kommunalpolitiker, Algirdas Paleckis, erreichte es, daß 2012 die Vorgänge vor Gericht kamen. Es stellte sich heraus, daß in dieser Nacht 13 Litauer und ein sowjetischer Offizier erschossen wurden. Tatwaffen: Kleinkalibergewehre und Jagdwaffen. Die Schüsse wurden von einer höhergelegenen Position aus abgefeuert. „Unsere schossen auf Unsere“ so der Kommentar von Paleckis. Dies bestätigten zwölf Augenzeugen, unter ihnen ein ehem. Mitarbeiter des Innenministeriums und ein ehem. hoher Sajudis-Funktionär vor Gericht. (Sajudis – eine nationalistische 1988 gegr. Bewegung) Nachzulesen im Internet.
    Ich habe meinerseits in dem Gespräch gelernt, das westliche Think Tanks durchaus seriös arbeiten können. Alexander Rahr äußerte sich dementsprechend. Da wurde ein Feindbild korrigiert.
    Wenn ich überlege, was meine Beziehung zur SU und Rußland geprägt hat, so muß ich meine Mutter nennen. In einfachen Verhältnissen lebend, ließ sie mich lesen, lesen, lesen. Gab mir sparsame, aber warmherzige Hinweise. So erzählte sie mir, daß eine Bekannte sich mit sowjet. Geheimdienstoffizieren einließ, um andere Frauen zu schützen. Ehrlichkeit ist es wohl, die überzeugt und Menschlichkeit ermöglicht.
    Im Übrigen habe ich auf die Ankündigung von Alexander Rahr, den Dämonen Dostojewskis nachzugehn, akkurat reagiert wie Sie. Ich werde sie schon mal wieder lesen.
    Zu meiner Person: Jahrgang 44, im Erzgebirge geboren, im Nebenfach Slawistik studiert, als Nachrichtenredakteur im DDR-Rundfunk in Berlin gearbeitet.

    Mit freundlichen Grüßen
    Christina Graupner

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