Hoffnung auf ein „Hirngespinst“
Irmtraud Gutschke
Wie soll das enden? Das ist doch die Frage bei diesem Konflikt. Natürlich handelt Alexander Kluges Buch vom Krieg in der Ukraine. Deshalb greift man ja so gierig danach. Weil man bei diesem Autor sicher sein kann, dass er auf unkonventionelle Gedankenwege führt, über das Bekannte hinaus, auch wenn er vielen Lesern darin voraus ist, die nicht einmal mit dem „Bekannten“ vertraut sind und lediglich eine emotionale Kriegsberichterstattung übernehmen, die in „gut“ und „böse“ teilt. Auch weiß Alexander Kluge – anders als etwa die deutsche Außenministerin – aus eigener Erfahrung, was Krieg bedeutet. Und er vermag nicht erst jetzt, mit 91 Jahren, multidimensional zu denken. Wie sich die Dinge entwickeln, hängt mit vielen Faktoren zusammen, die im Einzelnen wie in ihren Zusammenhängen bestenfalls erst im Nachhinein zu durchschauen sind. Hätten sich die Wolken über den Tälern der Ardennen im Winter 1945 nicht aufgelöst, wären die amerikanischen Luftangriffe gegenüber den deutschen Panzerverbänden nicht erfolgreich gewesen. Der Krieg in Europa hätte sich verlängern können. Wäre dann die im Sommer 1945 einsatzbereite Atombombe womöglich über Deutschland gezündet worden?
Allein schon das ist bewundernswert: Wie Alexander Kluge wenig bekannte Einzelheiten recherchiert, die einschichtige Betrachtungsweisen in Frage stellen. Nichts ist stabil, die Wirklichkeit ist multikausal. Simpel gesagt: Alles kann anders kommen, als man denkt. Ernst Jünger im Dezember 1942 im Kaukasus: Im „Kriegstheater“ befand er sich, wie er schrieb, in einer „Seitenloge“. Widersprüchliche Nachrichten erreichten ihn. Einkesselung der Sechsten Armee bei Stalingrad und gleichzeitig plante eine Experten-Kommission von Erdöl-Ingenieuren, bald schon am Persischen Golf zu sein.
Denkspiele, Anekdoten, Rollenprosa, Reminiszenzen – eine Sammlung von Gedankensplittern. Bei der Lektüre fühlte ich mich wie in längst vergangenen Zeiten, als sich mein Büro neben dem eines sehr klugen, älteren Kollegen befand, der eigentlich mein Vorgesetzter war. Immer wieder – nur kurz – öffnete er die Tür und machte sich eine Freude daraus, mich mit einer kurzen Bemerkung zu verblüffen. Ohne, dass er mir etwas erklärt, mich belehrt hätte, brachte er mir auf diese Weise bei, „um die Ecke“ zu denken. Und so steckt auch dieses Buch von Alexander Kluge voller Denkanstöße, von denen man vielleicht gar nicht mal alle sofort aufnehmen kann.
Wann oder wobei man aufmerkt, spiegelt die eigene Befindlichkeit. Ein von mir überaus geschätzter Rezensent begann seine Betrachtung mit einer im Buch abgedruckten Zeichnung von 1932: „Wir sehen ein Flugzeug in der Luft. Ein Mitreisender attackiert den Piloten. Es handelt sich um einen Kampf, der, wenn er nicht beigelegt wird, nur eine Katastrophe zeitigen, keinen Sieger hervorbringen kann. Der Absturz ist gewiss, sofern das Kämpfen nicht eingestellt wird.“ Eine Sinnbild für den Ukraine-Krieg fürwahr.
Aber wie soll er enden, wenn keine Seite kompromissbereit ist? Da gefiel mir in Alexander Kluges Buch das Code-Wort „Der Doktorand“. „Es handelte sich um einen jungen Mann von 29 Jahren, der in einer „Verknäuelung“ politischer Interessen „für einen Tunnelbau weit unterhalb der kriegerischen Fronten“ plädierte. Wiederaufbau von Mariupol, Freihandelsabkommen mit Kaliningrad – „Antirealismus und Großmut“ könnten Wunder wirken.
Von Großmut ist momentan auf keiner Seite etwas zu spüren. Und die Worte „Antirealismus“ und „Wunder“ würden bei vielen auf ein verächtliches Lächeln treffen. Ich aber denke, dass nur ein unvorhergesehenes Zusammentreffen, etwas geradezu unwirklich Erscheinendes diesen Alptraum beenden kann, eine überraschende Handlung. Einmal las ich, dass man ein schreiendes Kind zur Ruhe bringen kann, indem man eine Standwaage macht oder sonst etwas, worüber es staunt, weil es unsinnig erscheint. Aber ich verrenne mich. Zurück zu den Realitäten.
„Kriege, die unerledigt enden, hören nicht auf im Untergrund zu wühlen.“ Eine kluge Bemerkung, die sich nicht nur auf den amerikanischen Bürgerkrieg beziehen lässt. „Der Krieg ist ein Dämon, der sich der Herrschaft derjenigen, die ihn anzetteln, ebenso entzieht wie den Wünschen derer, die ihn bekämpfen. KRIEG IST EIN MEISTER DER PARADOXIEN. Dieser Satz von Herfried Münkler über den Großen Krieg 1914 bis 1918“ lässt sich verallgemeinern.“
Was für ein listiger Schreiber Alexander Kluge ist. Wie mein damaliger, inzwischen verstorbener Kollege öffnet er einen Gedankenweg, um sich dann schon wieder auf verschmitzte Weise zu entfernen. Nach dem Motto: Gib dir mal Mühe, du kommst selber drauf. Nimm mal eine größere Perspektive ein, mach dich locker. Wie Bismarck weinte, weil er keine Siegesparade wollte, habe nichts mit dem Ukraine-Krieg zu tun? Im Buch gibt es Bilder und QR-Codes, mit denen sich kleine Filme abrufen lassen. Das werde ich irgendwann mal tun. Erst einmal werde ich noch mit den vielen Klebezetteln in Buch zu tun haben. Ich weiß, dass mir der Autor Wichtiges sagt und dass ich noch nicht alles entschlüsselt habe. „Wird die Realität tödlich, wäre ein Hirngespinst, wenn es einen Notausgang eröffnet, nichts Unrealistisches.“ Ich gebe zu: darauf warte ich.
Alexander Kluge: Kriegsfibel 1923. Suhrkamp Verlag, 126 S., geb., 16 €.