Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Albrecht Müller: Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst.

Die alte Frage: Wem nützt das?

Albrecht Müller spricht Klartext, was Meinungsmanipulation betrifft

Er war Redenschreiber für Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller und von 1970 bis 1972 Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des SPD-Parteivorstands. 1972 hat er Willy Bandts Wahlkampf geleitet, dann die Planungsabteilung unter den Kanzlern Brandt und Schmidt. Albrecht Müller weiß also aus eigener Erfahrung, wie man Stimmungen beeinflusst. Jede Partei wird das versuchen, jede Regierung tut es. Ob bei politischen oder wirtschaftlichen Verhandlungen, ja bis in die tägliche Kommunikation hinein gibt es taktische Momente, wobei eine bewusste Irreführung nicht unterstellt werden muss. Auch den meisten Mitarbeitern der Medien ist nicht anzulasten, dass sie bewusst täuschen würden. Im häufigsten Fall haben sie keine andere Informationsquelle als die Nachrichtenagentur dpa und plappern mit gutem Gewissen nach, was sich öffentlich oder in ihrem Milieu als herrschende Meinung etabliert hat. Man steht unter Zeitdruck und weiß es oft nicht besser. Aufschlussreich der von Albrecht Müller zitierte Artikel von Anette Sorg auf den NachDenkSeiten: „Lieber dazugehören, als aufgeklärt sein“. Sprache schafft Gruppenidentität. Nicht jeder hat die Kraft, als Außenseiter betrachtet zu werden.

Albrecht Müller ist nach wie vor (ein kritisches) Mitglied der SPD, für die er von 1987 bis 1994 im Bundestag saß. Als unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder die neoliberale Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft an Einfluss gewann, rief er 2003 die Webseite „Nachdenkseiten“ ins Leben, wo eine tägliche kritische Medienschau zu politischen und wirtschaftlichen Themen geboten wird. Auch in mehreren Büchern hat er sich mit Machtpolitik und Meinungsmache auseinandergesetzt. Sein neues hat den Untertitel „Wie man Manipulationen durchschaut“, will also konkrete Hilfe geben, um im Dschungel der Meinungen nicht kopflos zu werden.

In jeglicher Machtstruktur sind Menschen von Ideologie umgeben. Die herrschende Meinung kommt den Herrschenden zugute. Dass dies in einer „Demokratie“ anders sei, ist eine Annahme, die selbst schon Verschleierung ist. „Keine der großen Entscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte ist ohne den Einfluss massiver Propaganda gefallen“, schreibt Albrecht Müller und liefert im Einzelnen überzeugende Analysen. Wie es zum Beispiel zur Losung „Wir sind ein Volk“ gekommen ist, dürfte insbesondere für Ostdeutsche aufschlussreich sein, die sich in den Mythos der „friedlichen Revolution“ verliebt haben. Die Vorbereitung und Begleitung der „Agenda 2010“, die Etablierung einer neuen Konfrontationspolitik in Europa, nachdem 1990, auch politisch, eine gemeinsame Sicherheitspolitik mit Russland verabredet war, die Umdeutung des Begriffs „Reform“ im neoliberalen Sinne, die Diffamierung der „Pleite-Griechen“ – alles Klartext, gut recherchiert. Was viele vielleicht nicht wissen: Die weitgehend verschwiegene Steuerbefreiung für Veräußerungsgewinne der großen Vermögen hat zum Verkauf deutscher Unternehmen bzw. deren Anteile an meist angelsächsische Großanleger geführt, die somit über einen direkten Zugriff verfügen und politisch Einfluss nehmen können. „Monopoly auf Steuerzahlerkosten“, nennt das der frühere Porsche-Vorstandsvorsitzende Wendelin Wiedeking.

Im ersten Teil des Buches hat Albrecht Müller 17 Methoden der Manipulation aufgelistet, damit man sie im Alltag erkennt – von Sprachregelungen, Wiederholungen, Übertreibungen, verkürzten Darstellungen bis hin zum gezielten Einsatz von Emotionen und der Inszenierung von Konflikten. Vorsicht vor häufig gebrauchten Schlagwörtern, die nicht hinterfragt werden, Vorsicht vor Kampagnen. Die haben immer einen Zweck. Wem nützt das, sollte man sich fragen und üben, auch mal um die Ecke zu denken. Wenn sich das Eigentliche, den Blicken der Allgemeinheit verborgen, sozusagen hinter einem Vorhang abspielt, ist das, was wir sehen, nur läppisches Politiktheater? Zu einfach gedacht! Wie wir reagieren ist von Belang. Ob wir uns blenden lassen oder nicht. Albrecht Müller setzt auf Kommunikation. „Zum Augen öffnen gehören mindestens zwei – das ist produktiv und macht mehr Spaß.“

Irmtraud Gutschke

Albrecht Müller: Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut. Westend Verlag. 144 S., br., 14 €.

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