Sich selber Langeweile machen?
Irmtraud Gutschke
Auch wenn der Buchumschlag dieses reizvollen Bändchens aus der Insel-Bücherei lauter Schafe zeigt, die gezählt werden wollen, ob Lektüre dermaßen entspannt, dass man sofort einschlafen kann, ist die Frage. „Ein Lesebuch“, für das Paula Schmid 35 Texte aus der Weltliteratur herausgesucht hat – Gedichte und Prosastücke, die alle von der Nacht handeln, von Ruhe und Ruhelosigkeit, von Lust und Gespenstern, vom Herumirren durch die Gassen und der Zurückgezogenheit mit einem Buch. Nachttischlektüre, eine Sammlung kleiner Leckerbissen, an denen man sich erst einmal erfreut.
Wobei es auch beruhigend ist zu wissen, dass es über die Jahrhunderte vielen so ging, dass sie nicht einschlafen konnten und die Stunden zählten. Manche waren verzweifelt andere haben es genossen. „Es ist gut, dass es Eulen gibt“ meint Henry David Thoreau. An Kinderängste erinnert sich Max Hermann-Neisse. Mascha Kaléko lauscht den Geräuschen der Nacht. Alberto Manguel verwandelt sich gleichsam in einen Geist und hört die Bücher rufen. „Lange Zeit bin ihc früh schlafen gegangen“, bekennt Marcel Proust und genießt, ob wach oder im Halbschlaf, einen Zustand der Schwerelosigkeit. Franz Kafka quält sich. Else Lasker-Schüler ist „eine lauschende Blume“ in Erwartung: „An dem seligen Glanz deines Leibes/ Zündet mein Herz seine Himmel an …“
„Zu wenig Zeit genommen/ für die Betrachtung der Sterne.“ Wie Recht Rainer Malkowski hat und wie dankbar ich der Herausgeberin bin, dass sie diesen Dichter nicht vergessen hat. Verfluchte Flüchtigkeit – sie hat uns in ihrer Gewalt. Es ist die Hast, die uns nicht schlafen lässt. „Sich selber Langeweile machen“, wie Jean Paul es vorschlägt? Er selber, bekennt er, würde um die Erde reitet, „von Wolke zu Wolke … durch langes Blau und durch Äquator-Güsse“… Und für mich mischt sich die Freude, diesen Menschen zu begegnen, mit Wehmut, dass sie nicht mehr sind und man einen wie Jean Paul zum Beispiel im Heute nicht findet.
„Wenn man nachts nicht schlafen kann“. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Paula Schmid. Mit Illustrationen von Katrin Stangl. Insel Verlag, 93 S., geb., 10 €.