Ein Jahrhundertroman
Wassili Grossmans Romanepos „Stalingrad“
Von Irmtraud Gutschke
1275 Seiten, inklusive Anmerkungen, schon seines Umfangs wegen erhebt dieses Buch den Anspruch, ein Jahrhundertroman zu sein. Dabei ist es lediglich der erste von zwei Bänden. „Leben und Schicksal“, 2007 ebenfalls bei Claassen erschienen, schließt daran an. Wobei Wassili Grossman in der DDR schon länger bekannt war. Sein Roman „Stalingrad“ ist bereits 1946 im Verlag für fremdsprachige Literatur in Moskau verlegt worden und erschien später noch mehrmals in der DDR, allerdings in zensierter Fassung; wobei man nach Stalins Tod zudem noch Schwierigkeiten mit dessen Namen hatte. Nun liegt die ursprüngliche Fassung vor, neu übersetzt, mit einem ausgezeichneten Vorwort von Jochen Hellbeck und einem editorischen Nachwort von Robert Chandler dem Herausgeber und Übersetzer der englischen Ausgabe. Da erfährt man, dass Grossman zwischen 1949 und 1952 „mindestens vier komplette Neufassungen“ erstellte, „um den wechselnden Anforderungen seiner Redakteure gerecht zu werden. Immer wieder sei die Veröffentlichung des Romans verschoben worden.
Wie Hunderte andere sowjetische Schriftsteller ist Grossman Kriegsberichterstatter gewesen. 1941 erlebte er fast die ganze Schlacht um Stalingrad. Für seine Beteiligung an den Kämpfen hat er mehrere Auszeichnungen erhalten. Der vorliegende Roman heißt im Original „Für eine gerechte Sache“. Schon im Titel steckt ein Gedanke, der sich in vielen Werken der Sowjetliteratur zum Kriegsthema ausdrückt: Unter großen Opfern hat das sowjetische Volk gesiegt, will es dem Nazismus moralisch überlegen war. In eindrucksvollen Szenen entlarvt Grossman die Menschenverachtung, die Verblendung, den Hochmut der deutschen Gegner, die sich als Eroberer des russischen Raums sahen.
Vor allem an Hand der Lebenswege der weit verzweigten Familie Schaposchnikow, ihrer Angehörigen und Freude entsteht im Roman, der in der Tradition Lew Tolstois ein großes Panorama jener Zeit entstehen lässt. Ein Querschnitt durch die Gesellschaft aus unterschiedlichen Perspektiven – nicht nur von Militärs, auch von Wissenschaftlern, Ärzten, Arbeitern, Philosophen usw. –war wohl des Autors Absicht gewesen. Da ist es sehr hilfreich, dass der Verlag dem Roman eine lange Liste der handelnden Personen vorangestellt hat, zu denen, wie gesagt, auch die deutsche Seite mit General Friedrich Paulus an der Spitze gehört. Die Handlung beginnt im Sommer 1942, als die Bedrohung Stalingrads durch die anrückenden Deutschen spürbar wird, und endet im Herbst, als die Sowjetarmee zum Angriff übergeht. Da wird das Geschützfeuer vor dem Hintergrund des Nachthimmels für den Armeekommissar Nikolai Krymow ein triumphales Signal, zu einem „überwältigenden Bild“. „Die stille und hohe Welt dieser russischen Nacht an der Wolga verschmolz auf erstaunliche Weise mit dem krieg; was nebeneinander und miteinander unmöglich existieren konnte, existierte dennoch und vereinte in sich die gewaltige Leidenschaft des Kampfes, Wagemut und Qual mit Ruhe und versöhnter Trauer.“
Man kann sich heute kaum vorstellen, was im Roman damals den Argwohn der sowjetischen Zensur weckte. Hatte sich der Autor zu wenig vor Stalin verbeugt? Oder lag es an der antisemitischen Kampagne, die Ende der Vierzigerjahre losgetreten war? Grossman war ja Jude. Den Genozid an den sowjetischen Juden hatte er zusammen mit Ilja Ehrenburg im „Schwarzbuch“ dokumentiert. 1948 endlich fertiggestellt, wurde es nicht veröffentlicht. Der Satz wurde eingeschmolzen, die gedruckten Bogen eingestampft. Welche Desillusionierung das für den Autor bedeutete, der für die Nomenklatura nicht mehr als zuverlässig galt, wird dann vor allem im Roman „Leben und Schicksal“ deutlich, in denen er den weiteren Lebenswegen der Gestalten aus „Stalingrad“ folgt.
„Westlich“ und „sowjetisch“ taugen als Gegensatzpaar nicht für ein tieferes Verständnis von Grossmans Werk“, schreibt Jochen Hellbeck im Vorwort, das sich auch mit den Schablonen aus Zeiten des kalten Krieges auseinandersetzt, „wonach allein dissidentische Werke als große Literatur zählen durften“. Zeit seines Lebens sei Grossman einem „humanistischen Glauben“ treu geblieben, „in dem Traditionen des russischen Realismus des 19. Jahrhunderts mit dem Pathos der sowjetischen Revolution und westlichen Einflüssen verschlungen waren“.
Wassili Grossman: Stalingrad. Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe. Vorwort von Jochen Hellbeck. Editorisches Nachwort von Robert Chandler, Übersetzung Anselm Bühling. Claassen Verlag, 1275 S., geb., 35 €.