Sich halten auf schwankendem Grund
Irmtraud Gutschke
Am Schluss sieht er Wilhelm Pieck mit Elisabeth Christine durch den Park des Schlosses Schönhausen spazieren. Der Tischler und die preußische Königin – beide residierten sie einst hier. „Pieck tritt an eine Platane und pisst … Elisabeth Christine hält ein Büchlein hoch, Pieck seht bescheiden zur Seite: Ode an die Ozeane.“ Und wir erinnern uns an den Anfang des Buches, als von dem argentinischen Dichter Sergio Raimondi die Rede war. In seiner „Rede zur Poesie“ 2019 in Berlin hatte er von einer „Ode an den Pazifischen Ozean“ gesprochen und dabei „im Schleppnetz der Poesie civil das abstrakteste, sperrige Material zutage“ gefördert, das der modernen Gesellschaft zugrunde liegt, industrielle, handelslogistische, finanzpolitische Phänomene“.
Da benennt Volker Braun wohl auch seine eigene Methode, in knappester Form große Zusammenhänge zu erfassen. Im poetischen Ozean schwimmen „Container mit Frackinggas“, und der Traum vom Kommunismus ist abgetaucht „unter Wasser“. Immer noch als „große Bewegung“? Der Kapitalismus, China, Russland, die bedrohte Natur, die Digitalisierung … Es ist ja ein Reiz der Lektüre, wie einem da Fragen aufscheinen, und wie man – vergeblich – den Autor um Antworten anfleht, bei dem man ein Zukunftswissen vermuten möchte. Intuitives Erfassen, das noch in seiner sprachlichen Ausformung verharrt.
„Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“: Das schmale Büchlein, zum 85. Geburtstag des Autors erschienen, ist ja sozusagen eine Lebensbilanz, die auf den Seiten 91 bis 94 noch einmal verdichtet wird. „Er wurde an einem Sonntag vor dem Krieg geboren.“ Fortan mischten sich immer wieder Gewalten in sein Leben ein. „Dresden zerstört, der Vater gefallen, das ist viel Gänglung und Maßregelung so zeitig.“ Und damit ging es ja weiter. Erst durfte er nicht zur Penne, weil er kein „Arbeiter- und Bauernkind“ war, nach dem 17. Juni klappte es doch. „Dasselbe Datum, auf dem Schulweg beredet, wurde ihm zum Verhängnis; ein Jahr Bewährungsfrist. Überhaupt war er vorlaut nach Lust; im praktischen Jahr die fristlose Entlassung …“ Ein Eigensinniger von früh an, beschloss er mit den Folgen zu leben. „Und das 11. Plenum kam und der Einmarsch in Prag und das Kriegsrecht in Polen, der Wind blies ihm ins Gesicht, er stellte sich eben so.“
Welche Gewalten den jungen Dichter trafen, in den Fußnoten zu diesem knappen autobiografischen Abriss wird es konkret und geht unter die Haut. Gute Vorsätze und amtliche Sätze. „Er stand allein an der Wand, ein perverser Genuss; er war nicht angebunden, nicht angestellt: er war ein loser Mensch.“ Der umso mehr das Schreiben brauchte, das sei hinzugefügt. Nach einem Sinnkern graben und etwas finden, das einen selbst, aber auch etwas Größeres betrifft. Wie das beflügeln kann! Erst den Schreibenden, dann die Lesenden.
Schonungslose Zeitdiagnosen in einem Spannungsfeld. Desillusionierung und Ideal – kein Wunder, das ersteres inzwischen überwiegt, nachdem eine „festgefahrne Gesellschaft … in der Geschichte“ unterging. Was hier alles aufgerufen wird an Erinnerungen, Reminiszenzen, literarischen und philosophischen Bezügen. (Glanzstück des Buches ist ein fiktives Gespräch mit dem marxistischen Philosophen Wolfgang Fritz Haug.) Schmerz und heilsame Distanz, wenn Zeitgeschichte betrachtet wird: „Hegels Weltgeist, wie je an seidenem Faden hängend, sieht deprimiert, wie der transatlantische Hochmut des Konquistadors mit dem ‚stolzen Ehrgeiz des mongolischen Gebieters‘ rivalisiert. Dem einen hat die spanische Krone, dem andern Dschingis Khan die Erde vermacht. Das Denken scheint stillzustehn. Der Weltcomputer hat sich aufgehängt und verlangt ein Reset.“
„Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen“, „Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten“, „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ – dreimal das Wort „Versuch“ in den drei brillanten Essays des Bandes. Sich halten auf schwankendem Grund, wenn Gewissheiten abhandenkommen: Nicht mehr als ein fortwährender Versuch kann es sein, aber auch nicht weniger.
Volker Braun: Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben. Suhrkamp Verlag, 100 S., geb., 20 €.