„An einem Ort, den es bisher nicht gab“
Orgien der Imagination: „Diverse Wunder“ von Thomas Stangl
Irmtraud Gutschke
Eine Frau steigt aus einem Gemälde. Oder täuschte das nur? „Sie streicht die Haarsträhne von ihrer Stirn. Ihre weiße Haut. Die Haut eines Menschen. Ihre blitzenden grünen Augen. Sie kommen mir ganz nahe … Du musst zu Farbe werden. Du drehst dich. Ein Wirbel. Es jagt dich durch die Wand … Sie beugt sich nah ans Bild, und die Alarmsirene beginnt zu heulen.“ Fast wie ein Motiv aus einem romantischen Märchen, will es scheinen, wo sich hinter Bilderrahmen und Spiegeln phantastische Welten öffnen. Der Titel „Diverse Wunder“ könnte derlei Erwartungen wecken. Doch hier fügt sich nichts zur Verkörperung einer Sehnsucht. Die Merkwürdigkeiten haben eher etwas widerborstig Stachliges. Sie stehen für sich. Und wenn überhaupt nach einem Sinn gefragt werden soll, ist es wohl dieser: Die Wirklichkeit ist dermaßen vieldimensional und absurd, dass die adäquate Art, sich ihr zu nähern, ein fragloses Staunen ist.
„Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten“ verspricht der Untertitel. In Wirklichkeit sind es über achtzig, die man wie kleine Leckerbissen genießen kann, wenn man sich mit dem Autor auf eine Wellenlänge wagt. Thomas Stangl, 1966 in Wien geboren, hat dort Philosophie und Spanisch studiert und sein Studium 1991 mit einer Arbeit über dekonstruktive Literaturtheorie abgeschlossen. „Es gibt kein Außerhalb des Textes“, schrieb Jacques Derrida. Stangls Bücher – dies ist sein zehntes – lassen sich vor diesem Hintergrund lesen. Gegen die vermeintlichen Gewissheiten und Lügen, die uns umschwirren, wehrt er sich, indem er mit Hilfe von Literatur eine zweite Welt erschafft, in der alles möglich ist. Zum Beispiel kann man nach der Ankunft in einer fremden Stadt „in der Bahnhofsunterführung die falsche Richtung einschlagen“ und dennoch das Zentrum finden. Und auch im heimischen Wien öffnen sich zwischen bekannten Straßen und Plätzen Keller und Schluchten mit unterirdischem Wald und wucherndem Gestrüpp.
„Ich glaube doch meiner Haut nicht mehr“, heißt es in der „Rede des Schattenpriesters“. Da verweist der Klappentext des Verlages zu Recht auf Franz Kafka. Auch Daniil Charms tritt ins Spiel, der den „Quatsch“ als Gegenmittel zum sowjetischen Pathos kultivierte, und Julio Cortázar, der das Spielerische und den Humor als Grundmotiv seines Schreibens verstand. „Eine Fliege beginnt zu sprechen.“ Nur dieser eine Satz genügt Thomas Stangl, um uns einen magischen Raum zu öffnen. Was erleben wir alles, wenn wir ihn betreten! Nichts anderes habe er zu tun, heißt es im Prolog, „als den Stoff, den ich vor mir habe, zu reinigen. Alles abzuschaben, was überflüssig ist … Bis nur noch dasteht, was alle wissen oder gewusst haben; aber an einem Ort, den es bisher nicht gab.“ Dass er diesen Ort nicht zu erfinden brauchte, fügt er hinzu – „zufällig bewohne ich diesen Ort“.
Genussvolle Arbeit an der Sprache, um lineares Denken zu durchkreuzen und immer wieder Paradoxien aufscheinen zu lassen. Wobei es auch eine Lust ist, ein Netz von Verbindungen zwischen den Texten zu entdecken. Immer wieder steigt ein kleiner Polizist aus einem Amulett, der Ich-Erzähler wird von einer Akrobatin begleitet. Ein sprechender Hund, ein Spaniel, irrt durch Venedig, nachdem er von dem chinesischen Maler Wu Daozi zum Leben erweckt worden ist. Von ihm, der während der Ming-Dynastie lebte, sagt übrigens die Legende, dass er in einem seiner Gemälde verschwand. „Manchmal wird mir klar, dass das, wovon ich schreiben will, alle anderen schon seit jeher wissen. Jeder Baum weiß es, jeder Baum in der Dämmerung, und Baum für Baum, die sich den Abhang hinab vom Haus zum See aneinanderreihen. Jeder Fisch und jeder Vogel weiß es und der See mit seiner unbewegt im schwachen Licht spiegelnden Oberfläche.“ Wohl wahr: Welche Hybris liegt darin, menschliche Wahrnehmungen zu verabsolutieren.
Ein melancholischer Schleier umspielt die Texte, in denen der Tod bejaht und verneint wird. Wortmacht gegen den Zweifel, die Verzweiflung. „Ziel der Literatur ist es, der Gurke den Weg aus dem Gurkenglas zu zeigen“, heißt es unter der Überschrift „Wittgenstein zwei“. Und man denkt an dessen Ausspruch, dass Aphorismen „geistige Vitaminpillen“ sind. „Einnahme beliebig, keine schädlichen Nebenwirkungen.“
Thomas Stangl: Diverse Wunder. Ein paar Handvoll sehr kurze Geschichten. Droschl, 112 S., geb.,
20 €.