Reizvoll, rätselhaft
Von Irmtraud Gutschke
Das Buch ist 1983 schon einmal bei Hanser erschienen, doch die Ausgabe jetzt – zum 80. Geburtstag des Autors – ist wirklich wie ein Geschenk. Große rote Schriftzeichen auf weißem Grund wollen genau betrachtet sein, weil sie ja zugleich auch Bilder sind, von denen man sich inspirieren lassen kann. Der Autor ist so vorgegangen, hat diese Bilder auf sich wirken lassen und dann kleine Texte geschaffen.
Schuldt, der seinen Vornamen Herbert gewöhnlich weglässt, hat als Enkel des Hamburger Reedereibesitzers H. Schuldt eigentlich sein ganzes Leben einer Kunst gewidmet, die man gewöhnlich als avantgardistisch bezeichnet. Davon zeugen zahlreiche Ausstellungen und Kunstaktionen, aber auch literarische Texte und Übersetzungen. Er liebt es, Wörtern und Sätzen nachzulauschen , mit Sinn für Alliterationen, Akronyme, Reime. Nun möchte man angesichts dieses Buches meinen, dass er Chinesisch kann. Aber dem ist nicht so.
Als Quelle des Buches gibt der Autor zwei Wörterbücher an, die er in einem Papierwarenladen in New York aufgestöbert hat. Die figurativen Zeichen beflügelten seine Phantasie. „Es dürfte offenkundig sein, daß selbst flüchtige Kenntnisse des Chinesischen mich daran gehindert hätten, dieses Buch zu schreiben, oder zuallermindest eine erbärmliche, altbackene und schlaffe Ausführung der tollkühnen Kaperung bewirkt hätten, um die es sich handelt. Das Wissen hätte den Text ruiniert und dem Autor die Sehnen durchschnitten.“ Dieses Bekenntnis des Autors im Nachwort mag jene enttäuschen, die angesichts des wirtschaftlichen Aufschwungs dieses von einer kommunistischen Partei regierten Landes nun einer besonderen chinesischen Mentalität auf den Grund zu gehen hoffen. Zu diesem Zwecke gibt es inzwischen hervorragende Sachbücher wie das von Wolfram Elsner, das auf dieser Seite auch besprochen wird. Was Schuldt im Nachwort zu Maos Schriftreform schreibt, die mit der Alphabetisierung der Bevölkerung im Zusammenhang stand, stimmt nicht so ganz, und auch anderem mögen nicht nur Sinologen widersprechen. Obwohl er nicht nur in London, Paris, New York, sondern auch in Shanghai und Sichuan gelebt hat, wie der Klappentext sagt, bleibt sein China-Bild exotisch, von deutschen Vorstellungen geprägt.
Was ihn interessiert, ist die Entstehung der Zeichen, für die er in sich ein Gefühl sucht, und von denen er sich inspirieren lässt zu kleinen Texten, die er „Fabeln“ nennt. Obgleich sie im Gegensatz zur Fabel eine Offenheit haben, die Leser auch verstören kann, die auf schnelle Lektüre aus sind. Sie haben etwas Schwebendes, auch in sich Widersprüchliches, weil der Unterschied zwischen Schein und Sein dem Schreibenden gegenwärtig war und weil sie eben nicht aus rationalem Kalkül entstanden, sondern aus freiem Assoziieren heraus. Ich mag das reizvoll Rätselhafte dieses Buches. Ich mag Schuldt, weil er ein Intuitiver ist und ich mir beim Lesen vorstelle, wie er sich von ihm unbekannten Schriftzeichen zu einer Art lyrischer Prosa in die Weite davontragen ließ. Wer sich einlässt auf diese kleinen Texte, kann diese Weite in sich selbst genießen.
Schuldt: Leben und Sterben in China. 111 Fabeln nach 111 Zeichen. Aus dem amerikanischen Englisch vom Verfasser. Matthes & Seitz, 293 S., geb., 28 €.