Solch ein Glanz zwischen Leben und Tod
„Wo der Wind wohnt“ – den Roman von Samar Yazbek wird man nicht vergessen
Irmtraud Gutschke
„Die Sonnenscheibe hindert ihn daran, seine Lider aufzuschlagen, und als er es nach einigem Bemühen schafft, die Augen zu öffnen, wird er vom Licht überrascht. Die Stille wird zu einem Geflüster. Er hebt den Kopf, wendet seinen Blick vom Himmel ab in Richtung Baum und hört, wie sein Name mehrmals genannt und das Geflüster unterbrochen wird. Er stemmt sich ein Stückchen vom Boden hoch und schüttelt Blätter, Staub und Lehm ab, dann ist die Stimme genauso heiser wieder zu hören. Die Stimme seiner Mutter!“
Sie waren fünf Soldaten gewesen, als eine Granate sie traf, wohl irrtümlich abgefeuert von einem Flugzeug der eigenen Truppen. Und nun liegt der 19-jährige Ali auf einem Berggipfel und fragt sich, ob er der einzige ist, der irgendwie überlebte. Auch wie groß seine Verletzungen sind, weiß er nicht. Manchmal raubt ihm der Schmerz das Bewusstsein. Dann wieder nimmt er seine Kraft zusammen, weil er glaubt, in dem großen Baum eine Rettung zu finden. Wenn er nur hinaufsteigen könnte. Im Bäumeklettern war er schließlich von Kindheit an geübt.
Zauber einer leuchtenden Prosa vor düster, traurigem Hintergrund. Der syrischen Autorin Samar Yazbek ist Erstaunliches gelungen, und ihre Übersetzerin Larissa Bender, die selbst Islamwissenschaft, Soziologie und Arabisch studierte, bringt es uns nahe. Welch besonderes Verhältnis Ali von Kindheit an zu Bäumen hat, wie ihn das Farbenspiel zwischen ihren Blättern und Zweigen fasziniert. „Ständig changierende Lichtkreise zwischen Hellblau und Grün. Nachts wurde es zu einem Tiefblau und einem Mittelblau und endete in einer Fliederfarbe, während er mit den Fingern durch die zitternden Blättchen strich … Er genoss es, die Wildblumen zu riechen … Oder an eisigen Tagen in der Morgendämmerung aufzustehen, um den Frost zu inspizieren, der sich um die Früchte gelegt hatte …“
Der Roman lebt von der subtilen Einfühlung in diesen Jungen, der wohl ein Besonderer ist. Einer, der sich mit Wolken auskennt und mit Bäumen, ein zart Besaiteter, gleichzeitig stark und schutzbedürftig. Der Scheich hatte ihn ausgewählt, ein Mann der Religion zu werden. Doch von der Feldarbeit weg pressten sie ihn zur Armee. (Und man denkt daran, dass Ähnliches jetzt in der Ukraine geschieht, wie an vielen Orten noch, wo es brennt auf der Welt.)
Samar Yazbek, einer großbürgerlichen alawitischen Familie entstammend, hatte sich für Syrien eine andere politische Zukunft gewünscht als sie mit Baschar al-Assad verbunden war. Bei Ausbruch des Bürgerkrieges 2011 engagierte sie sich für die Opposition, wurde vom Geheimdienst eingeschüchtert und floh zusammen mit ihrer Tochter aus Damaskus. Seither lebt sie in Paris. Als gefeierte Schriftstellerin, kann man sagen, denn für ihre Bücher hat sie zahlreichen Preise bekommen.
Vielleicht ihr schönster Roman, urteilt der Unionsverlag über ihr neues Buch, das ganz und gar in Alis Empfinden bleibt – als polyphoner Bewusstseinsstrom, wie man es sich selbst angesichts des grausamen Geschehens gar nicht vorstellen könnte. In vielerlei Hinsicht schmerzhaft war seine Wirklichkeit auch vor dem Krieg gewesen. Erinnerungen kommen ihm an sein Dorf mit dem Märtyrerfriedhof, wo auch sein Bruder schon bestattet worden ist, an die Granatapfelgerte des Vaters und an die Hände der Mutter, die sein Füße mit Öl salbten. Auch Humairuna spaziert durch seine Träume, jene uralte Frau mit roten Haaren, die neben einem Baum beim „Heiligengrab“ lebte.
„Ach, Ali, du Baum meines Herzens“, hatte sie zu ihm gesagt, „möge Gott dich nicht mit seinem Feuer holen…“ Nun sieht er, dass der Berg voller Asche ist, und blickt auf den Mond, den er früher „besteigen und in andere Formen verwandeln“ konnte…
Solch ein Glanz zwischen Leben und Tod – in Spannung wird man gehalten, indem man staunt und hofft. Diesen Roman wird man nicht vergessen.
Samar Yazbek: Wo der Wind wohnt. Roman. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Unionsverlag, 191 S., geb., 22 €.