Die eigenen Vergangenheit verlassen?
Irmtraud Gutschke
Fast fühlte ich mich als ostdeutsche Leserin selbst von der Verachtung getroffen, mit der die Ich-Erzählerin im Roman über ihr Heimatdorf und über ihre Eltern spricht. Sie will weg, wie so viele es wollten. Das Haus ihrer Gro0mutter, wo ihre Eltern wohnen und sie selber aufwuchs, war „so grau wie eine Katze“, und auf dem Plumpsklo hatte sich „schon vor einhundertfünfzig Jahren jemand den Hintern abgewischt“. Bleiben, wo alles so verrottet war und man keine Perspektive hatte? In Ostdeutschland nach 1990 war es ein Massentrend: Weggehen, dorthin, wo die Chancen auf ein angenehmes Leben größer sind, wo man sich weiterentwickeln kann, Ansehen gewinnt, am besten in einem kreativen Beruf.
Sabine Rennefanz, 1974 in Beeskow geboren, hat ihren Roman diesem Vorgang absichtsvoller Entwurzelung gewidmet, der vor dem Hintergrund der Verhältnisse, die sie mit teils sarkastischem Humor genauestens beschreibt, ein absolut verständlicher ist – und dennoch schmerzt, weil es nicht nur für die brandenburgische Provinz ein Ausbluten war. Sie schwingt sich nicht auf zu essayistischer gesellschaftskritischer Betrachtung, sondern bleibt ganz im Konkreten – bei der jungen Kathleen. Die hat es geschafft, in London bei der Zeitschrift „Design Review“ angestellt zu werden, und fühlt sich in der Fremde schon heimisch. Angehörige einer kosmopolitisch gestimmten Generation, die aber nicht die Mehrheit im Lande ist. Wenn sie über die Jahre hin und wieder mal nach Kosakenberg zu Besuch kommt, dann in Designerklamotten, was ihre Freundin Nadine eher abschätzig registriert.
Was da alles unter der Decke des Alltäglichen brodelt, der Autorin macht es spürbar, ohne dass sie es in Worte fassen müsste. So wie sie sich in die beiden jungen Frauen einfühlt, werden unterschiedliche Prägungen und Weltbilder verständlich: DDR-Vergangenheit und die Wirren der Transformation, als die DDR dem politischen und wirtschaftlichen System der BRD beitrat. Welche neuen Anforderungen damit verbunden waren, wie sich Wertvorstellungen änderten, welche Freiheiten sich auftaten und welche Zwänge.
Eine vielschichtige Geschichte, wie man sie zu Beginn des Romans womöglich nicht erwartet hat. Ein Für und Wider hat Sabine Rennefanz da wohl in sich selber durchgespielt. Und das macht die Lektüre ja so packend. War es Verrat, die alternde Mutter hinter sich zu lassen, die gegen Ende des Buches einsam stirbt? Gab es dafür nicht auch eine Vorgeschichte in der untergründig zerrütteten Ehe der Eltern? Hatte die Mutter sich nicht entschieden genug, ihrer Tochter zugewandt, weil sie es nicht über sich brachte zu bitten? Allein konnte sie die notwenigen Reparaturen am Haus nicht stemmen. Kathleen muss verstehen, dass sie im nahen Waldstadt in eine Wohnung zieht. Und doch tut es ihr weh, dass die Mutter das Haus Nadine verkauft, die es schließlich rigoros umbauen lässt und als Feriendomizil vermarktet. Nun war es Nadine, die aus Sicht der Ich-Erzählerin keinen Respekt hatte. „Sie hatte uns, die alten Eigentümer, ausgemerzt, als wollte sie jeder Spur der Vergangenheit tilgen. Dabei war es nur eine andere Art Anpassung gewesen. Die marktwirtschaftlichen Zwänge gehen schließlich auch an Kosakenberg nicht vorbei. Erst jetzt wird Kathleen klar, dass „wir verscherbelt“ hatten, was einst ein „Zuhause“ war.
Späte Reue? So einfach macht es sich Sabine Rennefanz nicht. Immer wieder hat sie ihre „Geschichte“ gedreht. Wie wird sie enden? Kann man die eigenen Vergangenheit verlassen? Man kann. Viele haben es getan. Aber tut es einem gut?Das ist hier die Frage.
Sabine Rennefanz: Kosakenberg. Roman. Aufbau Verlag, 220 S., geb., 22 €.