Zwischen zwei Welten
Olga Grjasnowa führt mitreißend ins 19. Jahrhundert – und lässt an die Gegenwart denken
Von Irmtraud Gutschke
Sie wurde 1984 in Baku geboren, nicht in einer aserbaidshanisch-islamischen, sondern in einer russisch-jüdischen Familie. Als sie mit ihren Eltern 1996 nach Hessen übersiedelte, hat sie kein Wort Deutsch gesprochen. Da konnte sie sich gut in Jamalludin, die Hauptgestalt ihres Romans, hineinversetzen, der 1839 als Neunjähriger in eine ihm völlig fremde Welt geschleudert wurde. Es ist ein historisch verbürgter Vorgang: Jamalludins Vater, der Aware Imam Schamil (1797-1871), Anführer der dagestanischen und tschetschenischen Bergvölker im Kampf gegen die russische Armee, folgte der Forderung des Zaren, seinen ältesten Sohn als Geisel auszuliefern – für die Dauer der Verhandlungen um einen Waffenstillstand, als Zeichen des guten Willens. Aber die Kämpfe hörten nicht auf.
Es würde ihm gut gehen, versprachen Jamalludins Bewacher, sogar sehr gut ging es ihm. Während die Awaren ihre Gefangenen in Erdlöchern hielten, wurde er in Begleitung eines höflich-freundlichen Offiziers aus adliger Familie in einer Kutsche nach St. Petersburg gebracht und von Zar Nikolai I. persönlich empfangen. Fortan würde er eine hervorragende Ausbildung genießen und keinerlei Mangel leiden. Ja, der Zar, der sich als Beschützer der orthodoxen Christen im Osmanischen Reich fühlte, versuchte nicht mal, ihn vom Islam abzubringen. Er ritt mit ihm aus, schenkte ihm ein Pferd und Juwelen. Und die Kaiserin (Charlotte von Preußen, auch Nikolais Mutter war eine Deutsche gewesen) erhöhte ihn vor aller Augen, indem sie mit ihm tanzte.
Da teilt man beim Lesen die ganze Zeit das Staunen des Jungen über die Fürsorge, die ihn umfängt, ebenso wie sein Gefühl der Einsamkeit. So detailliert und lebendig führt Olga Grjasnowa den Alltag des Adels in St. Petersburg vor Augen, dass gleichsam ein Film vor einem abzulaufen scheint. Wobei ein Spielfilm nicht reichen würde für diesen packenden Roman mit seinen Bildern und Wendungen, eher stellt man sich eine Fernsehserie vor. Der Zar täuschte sich nicht: Die Glitzerwelt der höfischen Kultur nahm Jamalludin mehr und mehr gefangen, sodass sich seine Kindheit im nordischen Nebel verlor. Wobei er langsam begriff, dass dies nicht das ganze Russland war. „Russland war von ihm ferngehalten worden, genauso wie es von der ganzen herrschenden Klasse ferngehalten wurde. Die höhere Gesellschaft sollte nicht wissen und nicht sehen, was ihr Lebensstandard, ihre Kultiviertheit, ihre Paläste und Kleider dem Land und den Untertanen abforderten. Der Alltag, die Armut und die Sorgen von Menschen ohne Rang und Namen waren zu banal, zu uninteressant für die höheren Kreise.“
Mit der Oktoberrevolution sollte sich alles ändern. Aber war es wirklich so? Wie lange braucht es in diesem Riesenland, die Kluft zwischen Zentrum und Peripherie zu schließen? Unwillkürlich fast seitens der Autorin verbinden sich ihre genauen Geschichtsbilder beim Lesen mit Gedanken an die Gegenwart. Dass Krimkrieg und Kaukasuskrieg nach ihrem Ende irgendwie immer weiter schwelten, ging mir durch den Kopf, wie überhaupt alle Kriege, weil die Kinder und Kindeskinder der Besiegten die alten Forderungen noch in sich tragen, wie ein verschüttetes Feuer, aus dem man Funken schlagen kann. Gerade erst gerieten Armenien und Aserbaidshan aneinander, stellvertretend für Russland und die Türkei, die damals schon im Kaukasus mitmischte. So sind heutige Konflikte vielerorts mit denen von einst verbunden. Russland trifft auf alten Groll nicht erst aus sowjetischer, oft schon aus zaristischer Zeit. Weshalb der Zar gegenüber Jamalludin so großzügig war? Irgendwann versteht man: Er hatte einen Plan. Einen klugen Plan durchaus, der den jungen Mann allerdings zur Schachfigur machte. Wenn die Wirklichkeit dann „klüger“ ist, nennt man es Ironie der Geschichte.
Ein Austausch von Geiseln: Jamalludin kehrt zurück. Da sehen wir einen russischen Offizier sich seiner Kleidung entledigen, abgeschirmt von einem Kreis schwarz gekleideter Krieger, die seine Uniform in den Fluss werfen. Wird er nun einer der Ihren sein? Wie soll er sein altes Leben vergessen mit „Musik, Kaffee, Lakaien, Kutschen, Bädern, die Sprache, den Alkohol, die Frauen“? Wie soll er leben im strengislamischen „Imamat“? „Was wissen sie schon von uns?“, fragt sein jüngerer Bruder, den der Vater zum Nachfolger bestimmte. „Was wisst ihr schon von ihnen?“, fragt Jamalludin zurück. Nicht zu zählen die Menschen, die Imam Schamil seinem „heiligen Krieg“ geopfert hat. Dass sein Heldenmythos in Dagestan und Tschetschenien bis heute lebt, dass die in den 1980er Jahren gegründete Stadt Swetogorsk in Dagestan 1991 in Schamilkala umbenannt wurde, steht nicht im Buch, das strikt im 19. Jahrhundert bleibt und dessen brillantes Deutsch man umso mehr bewundert, wenn man weiß, dass es für die Autorin einst eine Fremdsprache war. Wer will, kann sich von diesem Roman auch bloß unterhalten lassen. Olga Grjasnowas Gedankentiefe liegt im Hintergründigen. Wer zu ihr vordringt, wird noch mehr Genuss von der Lektüre haben.
Was Jamalludin wünschte, war Frieden mit Russland. „Er glaubte an ein neues Zeitalter, an Fortschritt und an die Aufklärung.“ Für den Vater war das Verrat.
Olga Grjasnowa: Der verlorene Sohn. Aufbau Verlag. 383 S., geb., 22 €.