„Literatur ist die Lüge, die die Wahrheit sagt“
Von Irmtraud Gutschke
„Alles verändert sich, wenn wir lesen“, sagt der britische Schriftsteller Neil Gaiman, der inzwischen in den USA lebt. Als Bestsellerautor ist er durch die Comicserie „Sandman“ und durch zahlreiche Science Fiction- und Fantasyromane bekannt geworden, die teils auch verfilmt wurden. Der kleine Band „Kunst ist wichtig“, von Chris Riddell mit filigranen Zeichnungen versehen, enthält Auszüge aus seinen essayistischen Werken. „Ich hatte Glück“, schreibt er. „Dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es eine hervorragenden Bücherei mit Bibliothekar:innen, die kein Problem mit einem kleinen unbegleiteten Jungen hatten, der jeden Morgen in die Kinderabteilung lief, sich durch den Katalog wühlte und nach Büchern mit Geistern oder Magie oder Raketen suchte. Nach Vampiren oder Detektiven oder Hexen oder Wundern.“ Er hat recht: „Wir müssen unseren Kindern nicht nur das Lesen, sondern auch den Spaß am Lesen vermitteln … Wir brauchen Lesende Bürgerinnen und Bürger“. Denn: „Durch Bücher kommunizieren die Toten mit uns. Durch Bücher lernen wir von jenen, die von uns gegangen sind. Wie die Menschheit sich entwickelt hat. Wie Wissen aufeinander aufbaut. Durch Bücher geben wir dieses Wissen weiter und müssen nicht alles immer wieder aufs neue lernen …. Literatur ist die Lüge, die die Wahrheit sagt. Wir haben die Pflicht zu Tagträumen. Wir haben die Pflicht, uns Dinge auszudenken. Es ist leicht, so zu tun, als könne man nichts ändern. Als wäre die Gesellschaft riesig und der einzelne weniger als nichts. Aber in Wahrheit gestalten einzelne die Zukunft und zwar indem sie sich vorstellen, dass alles anders sein könnte. Albert Einstein ist einmal gfragt worden, wie unsere Kinder intelligenter werden könnten. ‚Wenn Sie wollen, dass Ihre Kinder intelligent sind‘, sagte er, „dann lesen Sie ihnen Märchen vor, und wenn sie noch intelligenter werden sollen, dann lesen Sie ihnen noch mehr Märchen vor.“
Zum leidenschaftlichen Plädoyer für das Lesen kommt hier auch eine Beschreibung, wie es ist, ein Schriftsteller zu sein. Ein guter Stuhl ist ja nicht alles. Woher kommen die Einfälle? Wie wird man damit fertig, eventuell nicht beachtet zu werden? Er spricht aus eigener Erfahrung, insofern ist dieses kleine Buch auch eine Art Autobiografie, und er will ermutigen. Dass das Leben als freiberuflicher Künstler schwierig sein kann, er weiß. Manchmal sei es, als würde man eine Flaschenpost ins Meer werfen. „In der Hoffnung, jemand findet sie und liest sie und schickt dir eine Antwort über die Wellen zurück. Anerkennung oder Auftrag, Geld oder Liebe. Ihr müsst akzeptieren, dass ihr hundert solcher Flaschen aussendet, ehe die erste zurückkommt.“ Tatsächlich wird ja die Zahl der Menschen immer mehr, die sich ganz einer kreativen, einer künstlerischen Arbeit widmen wollen. Jede, jeder ist ja frei, das zu tun, darin besteht durchaus ein Vorzug unseres gesellschaftlichen Systems, aber auf dem Markt bewährt sich eben nicht alles. Was nicht mal an der Qualität der jeweiligen Produkte liegen muss. Es gibt einen Überfluss an Geschriebenem. Aber einen Mangel an Muße, es zu genießen. Viele Freizeitmöglichkeiten befinden sich in Konkurrenz mit dem Buch. Da sehe ich, während ich das sage, wie draußen die Sonne scheint. Schon seit einer Woche stehen draußen Töpfe mit Pflanzen, die in die Erde müssen. Wann bin ich einfach mal so spazieren gewesen? Ich bin ja, anders als viele andere, frei, mir meine Zeit einzuteilen. Aber das Lesen ist nun mal meine Leidenschaft. Eigentlich wäre dies ja ein Text zum Welttag des Buches am 23. April gewesen. Aber muss man dazu einen Anlass haben? Braucht man den 200. Geburtstag Dostojewskis, um über diesen russischen Schriftsteller zu sprechen?
Neil Gaiman: Kunst ist wichtig. Weil deine Vorstellungskraft die Welt verändern kann. Illustriert von Chris Riddell. Eichborn Verlag. 112 S., geb., 12 €.