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Natasha Brown blickt „mit Adleraugen“ auf ihr Land – und das unsrige
Von Irmtraud Gutschke
Sie ist den Weg ihrer Ich-Erzählerin in gewisser Weise selbst gegangen: Nach ihrem Mathematikstudium in Cambridge habe Natasha Brown „zehn Jahre im Londoner Finanzsektor“, gearbeitet, ehe sie 2019 den „London Writers Award“ gewann und sich fortan aufs Schreiben konzentrierte, sagt der Klappentext. Vom Foto blickt uns eine schöne junge Frau entgegen. Ist es politisch korrekt hinzuzufügen, dass sie schwarz ist? Und was bedeutet es andererseits, dies zu verschweigen? Wäre das im Sinne universeller Menschenrechte oder einer heuchlerischen Verkennung von Realität?
Jung und schön ist auch die namenlose Protagonistin in Natasha Browns Roman „Zusammenkunft“. Dass sie als Schwarze eher als Vertreterin einer Bevölkerungsgruppe behandelt wird, denn als Individuum, verfolgt sie auf Schritt und Tritt. Dabei ist sie die Karriereleiter hinaufgeklettert bis ins oberen Einkommenssegment. Aber frage nicht, was sie das gekostet hat. „Sei die Beste. Arbeite härter, arbeite schlauer, arbeite genauer. Übertriff jede Erwartung, sei aber gleichzeitig unsichtbar. Löse bei niemandem Unbehagen aus. Sei nicht unbequem.“
In einem Interview bekannte die Autorin, wie lange sie um jede Formulierung kämpft, um genau das zu verdeutlichen, was sie meint. Ihr schmales Buch enthält eine scharfsinnige Gesellschaftsdiagnose, die sie ihrer Protagonistin gleichsam in Geist und Körper schreiben wollte – mit jagendem Puls, mit ruhig beobachtendem „Adlerblick“ und in sarkastischer Reflexion. Sprache in wechselndem Rhythmus, sodass man sogar Lust bekommt, Passagen des Romans laut zu lesen. Es ist ein kunstvoll in einzelne Abschnitte unterteilter Text, in dem alles im Zusammenhang steht. Manchmal ist nur eine halbe Buchseite bedruckt. Die weißen Flächen wollen, dass wir aufblicken, etwas in uns nachhallen lassen, es mit eigenen Gedanken füllen.
Die Übersetzerin Jackie Thomae hat den Ton dieses Buches gut getroffen, zumal sie selber Schriftstellerin ist. In Halle geboren, hatte sie einen Vater aus Guinea, will aber Konflikte in ihren Büchern nicht auf Identitätsfragen reduzieren. Suhrkamp kam auf sie, weil sie sich sehr für die Bücher der britischen Schriftstellerin Bernardine Everisto (Vater aus Nigeria) eingesetzt hat, die wiederum Natasha Brown empfahl. Und ich wünsche mir nun einen neuen Roman von Jackie Thomae auf dem Buchmarkt.
„Die Diversität muss sichtbar sein.“ Natasha Browns Protagonistin weiß genau um ihre Rolle, einem überlebten Ausbeutungssystem eine moderne Fassade zu geben. Noch nie fand ich den Zusammenhang zwischen fortschrittlicher Identitätspolitik und reaktionären sozialökonomischen Verhältnissen im Konkreten so sinnfällig dargestellt wie hier. Erniedrigendes weißes Macho-Gehabe am Arbeitsplatz und das Angebot einer herausgehobenen Stellen, weil sie schwarz ist – das ist nur scheinbar ein Widerspruch. In Schulen und Unis Vorträge zu halten, ist Teil ihres Jobs. Und es wird ihr selber schlecht davon, wie sie im Sinne der Leistungsgesellschaft predigt, jeder könne alles erreichen bei entsprechendem Bemühen. Wie ihr Aufstieg aus einem benachteiligten Milieu auch Groll hervorruft gerade bei Leuten, die, selbst in schwieriger Lage, sich immerhin noch gegenüber einer Schwarzen im Vorteil fühlen konnten, erlebt sie täglich. Sie versteht es sogar. Etwas hat sich verändert und führt zu neuem Ressentiment.
Den Roman leichthin in Zusammenhang mit der „Black-Lifes-Matter-Bewegung“ bringen, hieße seinen Tiefgang unterschätzen. Denn bei aller Empörung über erlebte Ungerechtigkeit, der Aufstiegskampf, für sich selbst einen guten Platz in der Gesellschaft zu finden, wird von der Protagonistin immer wieder hinterfragt. Was sie sich leisten kann, weil sie ziemlich weit oben angekommen ist. Dass sie von dort das Ganze überschaut und dabei genau weiß, wie es unten ist – diese doppelte Perspektive, aus der die Kraft dieses Buches resultiert, hat allerdings ihren Preis: Der Abschied von jeglicher Selbstgerechtigkeit katapultiert sie aus der Wohlfühlzone, die sich andere Frauen, wie auch immer, erkämpft haben. Den „Hunger“ ihrer Freundin Rachel – „sie will eine größere Wohnung, einen besseren Freund, mehr Geld!“ – findet sie „gleichermaßen beängstigend und bewundernswert“. Es ist das Recht der Rechtlosen, „ohne jede Scham oder Zurückhaltung“ zu sein, doch es ändert an den Verhältnissen nichts. Mit ihrer Kunst gelingt es der Autorin, solche Gedanken anzustoßen, manchmal nur mit einem halben Satz.
Auch wo Freundlichkeit ist, spürt sie gönnerhafte Nachsicht und täuscht sich nicht. Am Schluss wird ihr der Sohn einer britischen Adelsfamilie einen Heiratsantrag machen und nicht wissen, dass sie Brustkrebs hat, den sie nicht behandeln lassen will. Ob der „standesgemäße materielle Wohlstand seiner Familie – das Haus dieses Land, das Personal, Kunst“ – sich womöglich der britischen „Großzügigkeit“ verdankt, die Sklaven im Empire freizukaufen, überlegt sie. Verleugnete Kolonialgeschichte, „die skrupellosen, über die Weltkarte schießenden Pfeile des europäischen Imperialismus“: Ohne Illusionen sieht sie „die hässliche Maschinerie, die unter allem Erreichten arbeitet“ und wünscht sich, „mit dem Strampeln aufzuhören“.
In England galt Natasha Browns Roman als erfolgreichstes literarisches Debüt 2021. Der Erfolg strahlte auch in die USA aus. „Eine gnadenlose Demontage des britischen Klassensystems“, lobte die „Washington Post“. „Eine nuancierte, stilbildende Erforschung von Klasse, Arbeit, Geschlecht und Herkunft“, hieß es in Harper’s Bazar.
Natasha Brown: Zusammenkunft. Roman. Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Suhrkamp , 114 S., geb.,
20 €.