Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Nastassja Martin: Im Osten der Träume

Die mit dem Feuer sprechen

Nastassja Martin lebte in Kamtschatka bei den Ewenken und suchte ein tieferes Ich

Irmtraud Gutschke

Vor drei Jahren hat sie uns schon einmal von Kamtschatka erzählt. „An das Wilde glauben“ handelte von der Begegnung mit einem Bären, der ihr das Gesicht zerfetzte. Versehrt wie sie war, ließ sie der Bär nun nicht mehr los. Nicht nur in ihren Träumen sieht sie ihn, sie kann ihn gleichsam in sich spüren, als ob er ihr eine neue Identität geben würde, als ob sie in der Wildnis eine umfassende Heilung finden könnte.

Nastassja Martin, 1986 in Grenoble geboren, ist Anthropologin. Als Wissenschaftlerin interessiert sie sich besonders für die arktischen Völker. Aber dahinter steckt noch ein ganz persönliches Bedürfnis, wie man bei der Lektüre auch dieses neuen Buches merkt: Sie sucht ein verlorenes Weltempfinden, ein verlorenes Wissen, das auch für westliche Zivilisationen bedeutsam werden könnte. Etwas, mit dem sie auch ihrem eigenen Weltbild etwas hinzufügen könnte.

Insofern muss ihr Buch Widerhall finden in den Herzen westlicher Leser, zumal sie über Gegenden erzählt, in die unsereins wohl nie kommen wird. Kamtschatka, eisige Kälte, die Waldeseinsamkeit der Taiga. Dorthin hat sich nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Gruppe von Ewenen zurückgezogen (die Autorin gebraucht das englische Wort „Even“, die gebräuchlichere Bezeichnung für dieses indigene sibirische Volk ist „Ewenken“), um auf ihre Weise selbstbestimmt zu leben – nicht als Nomaden, wie es eigentlich ihrer Tradition entspricht, sondern sesshaft auf einem Stück Land, das ihnen zugesprochen ist, um zu jagen und zu fischen. So abgeschieden, wie sie leben, hofft die Autorin auf ein konserviertes geistiges Erbe. Aber das ist schon längst nur noch in Bruchstücken da. Russischen bzw. sowjetischen  Kolonialismus dafür verantwortlich zu machen, greift zu kurz.

Wie Emanzipation und Degradation ineinandergreifen, hat schon Friedrich Engels 1884 in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ auf nachvollziehbare Weise dargestellt. (Unter den zahlreichen Literaturhinweisen fehlt dieses Buch.) Es war ja die Entstehung des Privateigentums, durch die sich die Menschen von der „Nabelschnur des ursprünglichen Gemeinwesens“ lösten, sich als Individuen bestätigen wollten und die Bande geringzuschätzen begannen, die sie zusammengehalten hatten. Diese Ablösung liegt für die Ewenken schon sehr lange zurück. Eindrucksvoll ist im Buch beschrieben, wie die Autorin das Vertrauen der Familie gewinnt, zumal sie mit ihnen russisch reden kann. Woher Nastassja Martin diese Sprachkenntnis hat, erfahren wir nicht. Vielleicht werden die russischen Wurzeln ihrer Familie später mal ihr Thema.

Der Abschnitt über die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion ist im Unterton kritisch, erfasst indes genau, dass es um ein gemeinsames Entwicklungsziel ging, dem die nationalen Eigenheiten nicht geopfert werden sollten. Diese wurden indes vornehmlich folkloristisch kulturell verstanden. Oberflächlich, denn das, was in der Tiefe lag, das ursprüngliche Gemeinwesen mit seinen Riten, Regeln und Abhängigkeiten, existierte sowieso nun noch in Bruchstücken. Allein schon, wenn die Leute lesen und schreiben lernen, Zugang zu Bildung bekommen, verändert  sich vieles in ihrem Wesen.

Nastassja Martin kann also nur die Spuren einer animistischen Lebensweise erkunden, was sie allerdings auf eine spannende Weise beschreibt. Ein transzendenter Glaube ist dem Westen ja nicht fremd, hier aber handelt es sich noch um Immanenz, Leben in einer beseelten Welt. Nicht nur die Tiere haben eine Seele, auch die Bäume, die Steine, das Feuer. Der Unterschied zwischen „belebt“ und „unbelebt“ existiert noch nicht. Darja, mit der sich Nastassja anfreundet, spricht mit dem Feuer. „Heißt das, dass der Wind, der Regen, die Wolken, alles, was in der Atmosphäre zwischen Luft und Wasser vor sich geht und was das Wetter ausmacht, deine Beschwörungen hören? Natürlich hören sie, antwortet mir Darja. … Aber das heißt nicht, dass sie tun werden, worum man sie bittet. Und erst recht nicht ohne die rituellen Handlungen. Ich weiß, dass Dinge fehlen, wenn ich mit ihnen spreche. Aber es ist alles, was mir bleibt. Und es kostet ja nichts, es zu versuchen.“

Dass dem Feuer, dem Fluss, den Wetterbedingungen eine „Belebtheit“ zugestanden wird, „die an Intensität alles übersteigt, was die Tiere oder die Menschen tun oder sagen können“, findet Nastassja Martin auch vor dem Hintergrund heutiger ökologischer Probleme bemerkenswert. Wenn die Natur nur als etwas Auszubeutendes betrachtet wird, wird immer wieder eine Grenze überschritten, die Menschen einst noch respektierten. „Ist es nur eine moralische Fabel, sich vorzustellen, dass all die fehlende Achtung, die wir in Raum und Zeit gesät haben, dazu führt, dass wir hier und heute den Sturm ernten?“

Nastassja Martin: Im Osten der Träume. Antworten der Even auf die systemischen Krisen. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Verlag Matthes & Seitz, 338 S., geb., 26 €.  

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