Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Michael Sollorz: Zeit der Kräne

„Heimat müsste man haben“

„Zeit der Kräne“ – von Michael Sollorz

Irmtraud Gutschke

Der Titel ließ mich sofort an „Insel der Schwäne“ denken. Es lag am Reim. Ansonsten, was für ein Kontrast. Der Film von Hermann Zschoche nach einem Roman von Benno Pludra war 1983 in der DDR ideologisch unliebsam, allein schon, weil das Neunbaugebiet in Marzahn, wo die Handlung spielt, darin irgendwie trostlos erscheint. Dabei war es doch ein Prestigeobjekt, um das Wohnungsproblem zu lösen.

Inzwischen ist das Wohnungsproblem zurückgekehrt. Auf andere Weise. Nicht dass Wohnraum wirklich fehlen würde: Es wird saniert und neu gebaut. Es ist tatsächlich eine „Zeit der Kräne“. Aber die Mieten steigen dermaßen rasant, dass es extrem schwer ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden oder umzuziehen, wenn sich Kinder angemeldet haben. An Wohneigentum ist für Ostdeutsche kaum  zu denken, auch wenn zwei ganz ordentlich verdienen. Man muss reiche Eltern haben, und die leben meist im Westen. Gentrifizierung: „sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Viertel durch eine Attraktivitätssteigerung zugunsten zahlungskräftigerer Eigentümer und Mieter und deren anschließenden Zuzug“, erklärt das Internet.

Vom Protest dagegen lebt dieses Buch. So meint man es jedenfalls zu Beginn. „Berlin musz brennen! Breite Lettern auf schmutzig weißer Fassade. Wie kommt die Parole zwanzig Meter hoch auf diesen fensterlosen Giebel?“ Wenige Zeilen später sehen wir Paul vor einem Backshop sitzen, „Rigaer, Ecke Liebig, noch keine dreiundzwanzig, mittelgroß, dunkelblond, ein junger Dachdecker, der jeden Werbeauftritt seiner Innung schmücken könnte.“ Ein wenig irritierend ist es schon, dass nicht er es ist, der von sich erzählt, und dass der auktoriale Erzähler sich hinter einer anderen Gestalt versteckt. Der Klappentext – wer liest ihn nicht vor der eigentlichen Lektüre – erklärt uns, dass ein Zellengenosse in der JVA Moabit der Schreiber ist, von dem man später erfährt, dass er psychische Probleme haben könnte.  Wie ist Paul dorthin gekommen? Hat er gar einen Mord begangen? Schließlich ist der Immobilienhai Karl August Schneeberg ums Leben gekommen. Der Autor hält uns in Spannung.

„Rechtsfreie Räume erkämpfen!“ Paul folgt einer jungen Frau mit geschorenem Kopf in ein besetztes Haus. Marie: Hätte man von dieser Person erwartet, dass sie bereits ihre zweite Doktorarbeit schreibt und später einen lukrativen Job in New York bekommt? Wozu braucht sie Paul? Wirklich nur als „Toyboy“, wie der Klappentext sagt?  

„Überlegst du dir manchmal, wie du leben willst?“, fragt Katja am Telefon. Tatsächlich scheint Paul jeden Tag eine andere Frau zu beglücken. „Ohne Ausnahme gefallen sie ihm, die Frauen, die ihn zu sich einladen und es gut mit ihm meinen, jede auf ihre Weise. Alleinstehende, selbstbewusste Großstädterinnen, sie haben gesunde Zähne, gepflegte Körper und gemäßigte Ansichten, die sie freimütig äußern.“ Der Satz kommt freilich nicht von Paul, sondern von seinem Zellengenossen, rund 40 Jahre älter, abgehalfterter Verfasser erotischer Unterhaltung, wegen eines Betrugsvergehens inhaftiert. Dr. Schiller, Gefängnisarzt mit literarischen Ambitionen, führt mit ihm gern tiefsinnige Gespräche. Die Konflikte in Pauls Leben, der Zorn, die Ohnmacht, das Unglücklichsein, die Einsamkeit, schließlich hat eine Freundin von Marie Selbstmord begangen, driften davon weg. Zwei Romane in einem?

„Heimat müsste man haben“  – vielleicht bildet dieser Satz die Klammer zwischen beiden. Wenn die schnell hochgezogenen Satellitenstädte zu DDR-Zeiten trostlos erschienen, hatte das mit Lebensansprüchen zu tun, die ja gleichzeitig genährt worden sind. Da war der offiziell kritisierte Film „Insel der Schwäne“, so bitter er war, eine Geste „nach vorn“.  „Zeit der Kräne“ aber meint eine Gesellschaft ohne Utopie, in der jeder bloß irgendwie zurechtkommen muss.

Michael Sollorz: Zeit der Kräne. Roman. Quintus Verlag, 248 S., geb., 22 €.

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