Dieser riesige Kontinent Eurasien
Irmtraud Gutschke
Wie eine wundersame Beschwörung klingt der Titel dieses Buches, das im April 2024 erschien, als der Krieg in der Ukraine schon zwei Jahre lang unser Land, unsren Kontinent zerriss – und unsere Herzen, wenn uns die Vorstellung einer Friedensordnung in Europa teuer war. Die hier veröffentlichten Reportagen sind vor dem Ukraine-Krieg entstanden, der Rowohlt Verlag aber hatte den Mut, sie zu einer Zeit zu veröffentlichen, als es nicht mehr so selbstverständlich war, nach Nowosibirsk, Minsk oder Tjumen zu reisen. Matthias Nawrat, Autor von fünf Romanen, einem Lyrikband sowie Essays, bekennt sich zu seiner osteuropäischen Herkunft, auch wenn er nur die ersten zehn Jahre seines Lebens im polnischen Opole verbrachte. Danach siedelte er mit seinen Eltern nach Bamberg über.
Inzwischen mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet und in Berlin lebend, möchte er sich nicht in einen arroganten Westeuropäer verwandeln. 14 Reisereportagen enthält der Band: Beobachtungen in Israel, in Slowenien, Russland, Rumänien, Ungarn, in Bamberg, Berlin und in mehreren polnischen Städten. Im Präsens holte uns der Autor an seine Seite. Wir sind zu Entdeckungen eingeladen, wie es bei guten Reisereportagen üblich ist. Heimlich lauschen wir den Gesprächen, die er führt, bewundern ihn, wie leicht es ihm fällt, Kontakt zu finden. Was für ein guter Beobachter Matthias Nawrat ist! Und wie er in sich eindringen lässt, was er sieht!
Auch nimmt er ja seine eigene Geschichte auf die Reisen mit, und er gibt dem Druck des Zeitgeistes nicht nach, die „sozialistische Republik“, in der er aufwuchs, Regime oder Diktatur zu nennen. Schon als ich zu lesen begann, freute ich mich, wie Matthias Nawrat seinen Kopf nicht beugt, wie frei er im Geiste ist. Das ist es ja auch, was das Buch so interessant macht: das Nachdenken. In Tel Aviv hat er „Das Land Uro“ von Czeslaw Milosz dabei: „In Deutschland, denke ich, lieben die Leserinnen und Leser osteuropäische Migrantenprosa, weil sie darin Heimatnostalgie und ein ganzheitliches Menschenbild wiederfinden, die sie sich selbst nicht mehr zugestehen können wegen der Katastrophe, in die das deutsche ‚Heimatgefühl‘ die Welt geführt hat. Dazu im Gegensatz steht das naturwissenschaftliche Weltbild der vermeintlich Aufgeklärten im Land ohne Nationalbewusstsein (dafür aber mit einem moralisierenden Universalbewusstsein, was ja im Prinzip der neue deutsche Nationalismus ist).“
Was für eine treffende Diagnose! Bei einem Festival in Ljubljana trifft er den syrischen Schriftsteller Aboud und erspürte in seinem Vortrag, wie dieser „im Erwartungsraum seiner Gönner gefangen war … Ihm blieb nichts anderes übrig als auf der Klaviatur unserer Bedürfnisse zu spielen, die wir ihm zur Rettung hingestreckt hatten“. Die „Zerstückelung der Literaturen durch die heute ihre Unterschiedlichkeit betonenden Sprachen und Regionen auf dem Balkan“ regisirierend, kommt ihm der Gedanke, dass in Deutschland ein „umgekehrter Rassismus“ vorherrscht. „Das Bildungsbürgertum hat einfach den Ausländerzoo Migrationsliteratur erfunden, um das Fremde auf diese Weise einzuhegen, für die eigene moralische Identitätskonstruktion nutzbar zu machen.“
„Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, die nicht nur auf Kapitalismus und Individualismus aufbaut, auf das Primat privaten Wohlstands und privater Sicherheit, und die trotzdem ökonomisch prosperierend und weltoffen bleibt“, überlegt er in Warschau. Er fragt, er zweifelt und reagiert empfindlich auf jedwedes „Blendwerk“ und jegliche Überheblichkeit, „über andere Weltbilder ein Urteil zu fällen“.
Packende Lektüre, geistiger Gewinn garantiert. Der Titel erinnert übrigens an ein Werk des chinesischen Philosophen Zhao Tingyang: „Alle unter einem Himmel“. Basierend auf dem alten chinesischen Prinzip des „tianxia“, der Inklusion der Völker in ihrer Verschiedenheit unter einem Himmel, wird darin die Utopie einer neuen Weltordnung entworfen.
Matthias Nawrat: Über allem ein weiter Himmel. Nachrichten aus Europa. Rowohlt Verlag, 222 S., geb., 25 €.