Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Maria Ospina Pizano: Für kurze Zeit nur hier

Güte inmitten von Verheerung

María Ospina Pizano ist in ihrem Roman „Für kurze Zeit nur hier“ mit Tieren im Bunde

Irmtraud Gutschke

Ein Schwarm von Vögeln umkreist einen Wolkenkratzer in Manhattan. „Gelbe, graue, gesprenkelte, schwarze, braune, schwarzgrüne, weiße orangefarbene und blaue“ – magisch angezogen vom gleißenden elektrischen Licht, sind sie irritiert auf ihrem Flug nach Süden. Wie in einem Film können wir in Nahaufnahme vor uns sehen, was aus der Ferne wie eine große Wolke erscheint: „Orientierungslose Flügel, erschöpfte Körper, die von nichts als Absicht und Schicksalshunger erfüllt waren, bevor sie in diese Falle gerieten.“ Wie freiwillige Mitarbeiter des städtischen Vogelschutzvereins später die vielen Arten klassifizieren, wie der Portier des Bürogebäudes am Morgen „die Opfer des Massakers“ aufsammelt und in einem Park in der Bronx bestattet. Zusammen mit seiner Tochter, die für jeden ein kleines Kreuz aus Stöckchen anfertigt und ein selbst erdachtes Abschiedslied singt. Später wird ein Ornithologe diesen Ort finden, weil er aus der Leiche einer Blauwaldsängerin immer noch ein GPS-Signal empfängt. Es wird ihm leid tun um das winzige Wesen, dessen weiße Brust ihren Glanz nicht verloren hat …

Der Scharlachkardinal entgeht dem Sturz in die Tiefe, doch in Bogotá prallt er gegen die glänzenden Fenster eines Bankhochhauses. Benommen landet er auf dem Balkon einer Wohnung. Ein Foto im Buch zeigt, wie er auf dem Granitboden sitzt. Und mir kam der Gedanke, dass dieser Vogel womöglich zu diesem Roman beigetragen hat. Die Frau, die vorsichtig über seine Federn streicht, seinen hektischen Herzschlag spürt und deshalb sofort ein schlechtes Gewissen bekommt, könnte es nicht die Autorin selber sein?

María Ospina Pizano wurde 1977 in der kolumbianischen Hauptstadt geboren, promovierte in Harvard und lehrt an der Wesleyan University in Connecticut. Spanisch und Lateinamerikastudien – dem Roman sind Zitate zahlreicher berühmter Literaten  eingefügt, die alle etwas mit Menschen und Tieren zu tun haben. Gewalt trifft die einen wie die anderen. In ihrer Erschütterung, ihrer Empörung steht Ospina Pizano nicht allein. Aber wie sie in diesem Roman Tiere zu ihren Protagonisten macht, wird zum besonderen Leseerlebnis.

Mit zwei Hündinnen, Kati und Mona, beginnt das Buch. Der Besitzer der einen, ein obdachloser Müllsammler, wurde in ein Polizeiauto gezerrt. Die andere blieb tagelang angeleint vor einem Café, bevor man sie ins Tierheim brachte. Wie sie irritiert sind, traurig, zornig, hungrig, durstig, bedürftig nach Liebe – ganz nahe geht die Autorin an sie heran, beobachtet jede Bewegung, ja versetzt sich in sie hinein.

Immer wieder ist man erstaunt, über die Nähe die da entsteht. Zu einem Stachelschweinbaby, sogar zu einem Käferweibchen, das erst als Larve in der Erde wohnt  und dann seine Flügel spreizt, auf Nahrungssuche geht, immer wieder auf dem Rücken landet und schließlich mit einem Mangoldblatt in ein Landhaus gelangt, wo eine Frau es nicht über sich bringt, das Insekt einfach in den Müll zu werfen. Sie setzt den Käfer aufs Fensterbrett, wo er bewegungslos sitzen bleibt, beneidet ihn um seine Unerschütterlichkeit und macht sich um ihn Sorgen.

Menschen, die sich Tieren verbunden fühlen, kommen im Roman immer wieder vor. Bei ihnen hat sich Ospina Pizano wohl selber Halt geholt. Weil das Verhältnis zu diesen stummen Wesen für sie ein Spiegel ist für das der Menschen untereinander. Wasserwerfer gegen Obdachlose, Tränengas gegen Demonstrierende, ein US-Gefängnis für minderjährige Migranten, Pflanzengift, entwaldete Flächen, Vertreibung der Indigenen  – Verheerungen, die immer schlimmer werden. So wie der Scharlachkardinal auf seinem Flug keine Grenzen kennt, blickt Ospina Pizano auf den amerikanischen Kontinent, ja überhaupt auf die Welt als Ganzes. Da denke ich an den kirgisischen Schriftsteller Tschingis Aimatow, an seine Erzählung „Die Klage des Zugvogels“, an das Pferd Gulsary, die Wölfin Akbara und überhaupt an die vielen Tierwesen in seinen Werken. Und ich denke auch an die schätzungsweise 11 Millionen Menschen ohne Einwanderungspapiere in den USA, die nach dem Willen Trumps ins Elend abgeschoben werden sollen. Hass auf Fremde zu säen, um die Unzufriedenen im eigenen Land zu beschwichtigen, längst schon geschieht das auch hier.

Atemlos liest man. Jede Szene im Roman ist ein Kunstwerk für sich. Der berühmte magische Realismus der lateinamerikanischen Literatur wird hier ganz heutig. Über Jahrhunderte spannt sich eine geistige Brücke. Dass es „etwas Schlimmes ankündigt, wenn die Turteltaube weint und der Hund jault“, schrieb der Mönch und Schriftsteller Fray Bernado de Lugo im Jahre 1619. Von ihm hatte ich vorher noch nie gehört. Ich tauche ein in die Empfindungen jener Wesen, die ganz im Jetzt leben und „sehr wohl über einen geheimen Willen verfügten, der aber völlig losgelöst von dem der Menschen war“. Und ich denke an den Roman „Liebe in Zeiten der Cholera“ des Kolumbianers Gabriel Garcia Márquez, denn auch María Ospina Pizano will inmitten all der Verheerungen den Glauben nicht verlieren, „dass die Dinge eben doch gut sein können“.

María Ospina Pizano: Für kurze Zeit nur hier. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, 198 S., geb., 22 €.

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