Der Jude und der Judenhasser
Leonid Zypkin ergründet die Persönlichkeit Dostojewskis – und das eigene Leben
Von Irmtraud Gutschke
Dass er einmal als Schriftsteller bekannt, ja berühmt werden würde, es kam ihm gar nicht in den Sinn. Leonid Zypkin, geboren 1926 in Minsk, gestorben 1982 in Moskau, war Mediziner, so wie es die meisten seiner russisch-jüdischen Vorfahren gewesen waren. Als Pathologe am Institut für Poliomyelitis und virusbedingte Enzephalitis war er in einer Arbeitsgruppe mit der Einführung der Polio-Schutzimpfung in der Sowjetunion befasst und erforschte unter anderem auch die Reaktion von Tumorgewebe auf tödliche Virusinfektionen. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, einige auch im Ausland.
Indes, früh schon zog es ihn zur Literatur, um der großen Fragen willen, die auch ihn umtrieben. Er bemühte sich nicht um Veröffentlichung, er schrieb „für die Schublade“. Jede freie Minute nutzte er dafür. Auf Gedichte und kurze Skizzen folgten autobiografische Erzählungen und schließlich 1977 bis 1980 der große Roman „Ein Sommer in Baden-Baden“. Den hat Zypkins Sohn Michail, der seit 1977 in den USA lebte, dort einer Zeitschrift für russische Emigranten angeboten, nachdem das Manuskript durch einen Journalisten über die Grenze geschmuggelt worden war. Am 13. März 1982 erschien die erste Folge, am 20. März, seinem 56. Geburtstag, starb Leonid Zypkin an einem Herzanfall. Fünf Tage zuvor war er aus seinem Institut entlassen worden.
Hatte schon die Ausreise des Sohnes für ihn zu beruflichen Nachteilen geführt – er wurde in der Hierarchie zurückgestuft –, führte die wiederholte Ablehnung seiner eigenen Anträge zu Diskriminierung und Bitternis. Dabei bebte der Boden immer schon unter seinen Füßen. In der autobiografischen Erzählung „Die Brücke über den Fluss“ (1973) wird nur angedeutet, was seiner Familie widerfahren war. „Sie kommen mich holen“, hatte sein Vater geschrien, statt erleichtert zu sein, dass ihnen die Flucht aus dem von den Deutschen besetzten Minsk gelungen war. Michail Zypkin schreibt in seiner Nachbemerkung, dass die Psychose darin bestand, als Deserteur aus dem Ersten Weltkrieg verhaftet zu werden, obwohl er wegen seiner Kurzsichtigkeit vom Wehrdienst befreit war, und dass er zwischenzeitlich sogar in einer Nervenklinik untergebracht werden musste. Wollte er nicht daran erinnern, was der Großvater 1934 erlitten hatte? Auf Grund bizarrer Anschuldigungen war er verhaftet worden, sprang von einer Treppe im Gefängnis und wurde mit gebrochener Wirbelsäule auf einer Bahre nach Hause gebracht, nachdem sich ein einflussreicher Freund für ihn eingesetzt hatte. In der Erzählung wird nur angemerkt, dass es „auf dem Weg von oder zu einem Verhör“ geschah und dass seine Aussagen so aberwitzig gewesen seien, dass sich damals schon eine Psychose andeutete.
Der Junge war acht, als er das sah. Die Angst muss ihm in die Seele gefahren sein. Es muss ihn viel stärker geprägt haben als er im Text zugibt. Und Professor Oiserman, der seinem Großvater vor seinem Tod den Puls gefühlt hatte, war von den Deutschen vor seiner Ermordung etwas angetan worden, „das nie laut ausgesprochen wurde“. Warum nur so andeutende Worte, während er in allem anderen so ausführlich ist? Fürchtete er, der KGB könne sein Manuskript beschlagnahmen? Ohne Susan Sontags Vorwort zum Roman „Ein Sommer in Baden-Baden“ könnten wir uns manches kaum zusammenreimen.
Die berühmte US-amerikanische Schriftstellerin hatte Zypkins Roman vor einem Londoner Antiquariat aus einer Bücherkiste gefischt. Ihre Aussage, dass er „zu den schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werken des vergangenen Jahrhunderts“ gehöre, war für den Autor sozusagen eine verspätet nachgereichte Eintrittskarte zum Olymp der Weltliteratur. Die Erstübersetzung von Heddy Pross-Weerth 1983 war untergegangen, mit Sontags Vorwort wurde die Neuübersetzung von Alfred Frank 2006 im Berlin Verlag zum Erfolg und war bald vergriffen. Der Aufbau Verlag hat dem Band jetzt noch Zypkins illustriertes „St. Petersburg-Album“ beigefügt, das unbedingt zum Roman gehört, und, wie gesagt, Ganna-Maria Braungardts Erstübersetzung der „Brücke über den Fluss“.
Auch hier schon die elegische Stimmung, die Sprachkraft des Benennens und Verschweigens und die langen gewundenen Sätze, in denen sich die Zeiten überlagern. Die Erzählung beginnt damit, dass der Autor 1972 in der Moskauer Metro sitzt. Dunkelheit und vorbeieilende Lichter – wie einige Jahre später auch während der Zugfahrt von Moskau nach Leningrad, die dem Roman den Rahmen gibt. Ein Flackern von Hell und Dunkel, passend zum Bewusstseinsstrom, der bald auch den Leser umfängt und immer weitertreibt durch die Jahrhunderte. Von Zypkins Leben in der Sowjetunion zu Dostojewski in Deutschland und zum eigenen Verstehen des einen wie des anderen, der Irritation vielleicht auch, was man alles früher so noch nicht sah.
Susan Sontag war begeistert vom „halluzinatorischen Assoziationssturm“, der im „Sommer in Baden-Baden“ mehrere Welten wachruft, nachschafft und „real“ werden lässt. „Durch den kulturellen Verfall der Gegenwart schimmert die fiebrig pulsierende Vergangenheit.“ Der Verfasser des Romans, der ja nie ins Ausland hatte reisen dürfen, vertieft sich ins Tagebuch von Dostojewskis zweiter Frau Anna Grigorjewna. Die hatte geglaubt, in dem Schriftsteller einen „Schiffsmast“ zu finden, der ihr Halt geben würde auf stürmischer See. Es war umgekehrt. Susan Sontag ist begeistert, wie der Roman die eheliche Liebe besingt. Aber es war Abhängigkeit. Regelmäßig wirft sich Fjodor Anna zu Füßen in Selbstanklagen, dass er ihr Leben ruiniert, was er indes immer wieder tut, materiell und emotional. Er zieht sie hinein in den Sumpf seiner Spielleidenschaft und seiner Schulden, versetzt noch ihr einziges ordentliches Kleid und beschimpft sie, dass ihre Handschuhe einer Dame nicht würdig seien. Beschimpft sie aus nichtigem Anlass, fährt aus der Haut, blamiert sie in der Öffentlichkeit – und Zypkin lässt uns verstehen, wie dies mit durchlittener erniedrigender Gewalt zusammenhing.
Bekanntlich wurde Dostojewski wegen seiner Zugehörigkeit zu einem frühsozialistischen Zirkel verhaftet und zum Tode verurteilt. Nach einer Scheinhinrichtung wurde er nach Sibirien deportiert. Fünf Jahre lang lag er im Omsker Zuchthaus in Ketten. Erst weitere fünf Jahre später durfte er nach St. Petersburg zurückkehren. Anna fällt es auf, dass er die Beine „irgendwie eigenartig“ bewegt, „fast ohne die Knie zu beugen, als trüge er immer noch Ketten an den Füßen“.
So war es wohl. „Wie ein Seiltänzer, der jeden Moment abstürzen kann“, fühlte er sich. Da ahnen wir, was ihn in der Tiefe mit Leonid Zypkin verband – über dessen literarische Begeisterung hinaus, mit der er Dostojewskis Leben recherchierte, für sein „St.-Petersburg-Album“ alle seine Aufenthaltsorte und die Handlungsorte seiner Werke fotografierte. Sie beide kannten das unabwendbare Gefühl einer Kränkung, die Unmöglichkeit, sich zu wehren. Wie Leonid als Halbwüchsiger von einem Jungen geohrfeigt und beschimpft wurde, weil er Jude war, und wie er von Rache träumte, das korrespondiert mit Dostojewskis Erinnerung an eine Züchtigung im Zuchthaus, gegen die er später protestierte, indem er in der Dresdner Gemäldegalerie vor der „Sixtinischen Madonna“ auf einen Polsterstuhl stieg, der dem Museumswärter vorbehalten war. Überall sah er Menschen, die ihn verhöhnen wollten, und ließ seinen Kränkung an ihnen aus – an den Deutschen, die „allesamt eindeutig Spitzbuben waren“ (die Dostojewskis bekamen ihre finanzielle Misere zu spüren) und vor allem an den „Jidden“. Da hätte Leonid Zypkin haarsträubende antisemitische Passagen aus seinen Werken zitieren können. Aber er versetzt sich so tief in Dostojewski hinein, dass er gleichsam ein Teil von ihm wird, und fragt nur sanft, wie „ein Mann, der in seinen Romanen solche Sensibilität menschlichem Leid gegenüber beweist, dieser hingebungsvolle Fürsprecher der Erniedrigten und Beleidigten … nicht ein Wort der Verteidigung oder Rechtfertigung für jene Menschen gefunden hat, die jahrtausendelangen Verfolgungen ausgesetzt sind…“ Und er merkt an, dass es gerade Juden waren, die sich um die Dostojewski-Forschung und überhaupt um die Bewahrung des russischen Kulturerbes besonders verdient gemacht haben. Da mutmaßt er sogar ein Bestreben, „sich hinter seinem Rücken zu verstecken wie hinter einem Schutzbrief …– wie das Kreuz, das bei Pogromen an jüdische Haustüren gemalt wurde“.
Wir sehen ihn, wie er im Pelzmantel des Vaters das Kinn in den Persianerkragen steckt. Er weiß: Der Vater hatte Glück gehabt, dass er 1952/53 Stalins Mordkampagne gegen jüdische Ärzte entging, nachdem ihn die Deutschen nicht zu fassen bekamen und die Familie nicht im Ghetto umgekommen war, wie ein Großteil der Verwandten und Bekannten. Zu Beginn der Erzählung „Die Brücke über den Fluss“ porträtiert sich Leonid Zypkin als dicken, kurzbeinigen Halbwüchsigen „mit ungesunden Ringen unter den Augen“, der immer „zu stolz“ sein würde, „sich mit dem Bewusstsein seiner Schwäche abzufinden“. Sehr nachdenklich lässt er uns zurück.
Leonid Zypkin: Die Brücke über den Fluss. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Mit einer Nachbemerkung von Michail Zypkin.
Ein Sommer in Baden-Baden. Vorwort Susan Sontag. Übersetzung Alfred Frank.
Beide Aufbau Verlag. 208 S. u. 310 S., geb., 22 € u. 24 €.