Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Landolf Scherzer: Die Kämpfs

Die hart arbeiten und meist im Schatten stehen

Landolf Scherzer ergründet mit seiner Thüringer Familiengeschichte „die große Kraft der kleinen Leute“

Irmtraud Gutschke

Die füllige Frau war ihm gleich sympathisch, als sie an jenem Oktobertag 1994 im klatschnassen Anorak in die Gaststube trat. Auch er hatte sich ja im durch strömenden Regen zum „Thierbacher Hof“ durchgekämpft, wo noch das Schild „LPG-Verwaltung“ hing. Der Wirt briet der durchnässten Wanderin ein Thüringer Rostbrätel mit viel Zwiebeln, kredenzte einen Verdauungstrunk und schenkte auch dem Autor einen Nordhäuser Doppelkorn ein. Er aus Dietzhausen, sie aus dem nahe gelegenen Benshausen, das freute sie:  „Ich bin die Marianne. Marianne Stracke,  geborene Kämpf.“ Dass sie seit  Jahren die Geschichte ihrer Familie erforscht und aufschreibt, erzählte sie ihm später. Sie trafen sich, tranken Benshäuser Bärwurzschnaps, wechselten Briefe. Und nach ihrem Tod am 24. Februar 2004 brachte ihr Sohn zwei Kartons voller Papiere zu ihm. „Sechshundert Seiten Leben.“

Die lagen erst einmal da, während Landolf Scherzer für seine Reportagen nach China, Griechenland, Kuba und auf die Krim reiste. Erst 2023 begann er, die Papiere zu sortieren und selbst zu recherchieren. Wie in seinen bisherigen über dreißig Büchern kam ihm dabei sein Talent zugute,  schnell mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. In Thüringen war das ein Heimspiel. Persönlich einmalige Lebenswege enthüllten sich ihm. Doch niemand hielt sich für etwas Besonderes. Und gerade das war es wohl, was ihn faszinierte. Etwas Unerzähltes sozusagen vor der eigenen Haustür. Die „kleinen Leute“, die hart arbeiten und meist im Schatten stehen. Medial ins angeblich Uninteressante abgeschoben, während irgendwelche angeblich Prominente Schlagzeilen machen. Auf eine leise Art zieht uns Landolf Scherzer ins Nachdenken. Aber erst einmal sollen wir jene Menschen kennenlernen, von denen er erzählt.

Mariannes Großmütter: Anna Kämpf aus Benshausen und Anna Moritz aus Zella-Mehlis. Die „schwarze“ Anna, „streng gottgläubig“ und mit 25 Jahren gelähmt, gebar dennoch vier Kinder. Die „rote“ hieß so, weil sie einen überzeugten Sozialdemokraten heiratete. Wie schwierig es war, dass Mariannes Eltern, Artur Kämpf und Irma Moritz, zusammenfanden, kann man miterleben, auch was Artur, dem begnadeten Schneider, während des Krieges widerfuhr. Mit vielen Details, denn er hat Tagebuch geführt. Warum trat er der NSDAP bei? Warum ging er später in den Westen? Warum tat Mariannes Tochter, die „Katastrophenkellnerin“ Ute, es ihm nach? Und wie erging es Marianne dabei, die sich in der LPG bis zuletzt für 800 Rinder und 3000 Schweine verantwortlich fühlte? Fünf Kinder hat sie „neben ihrer Arbeit“ großgezogen.

Eine weit verzweigte Familiengeschichte voller berührender Einzelheiten mit Brüdern, Schwestern, Neffen und Nichten. „Zeugnisse aus fünf Deutschländern“, wie Herausgeber Jens-Fietje Dwars im Nachwort schreibt, vom Kaiserreich bis zur heutigen „deutsch-deutschen Zerrissenheit“. „Die Kämpfs? Zu allen Zeiten arbeiten, Familie erhalten, Abstand wahren … Und immer wieder schaffe, schaffe, Häusle bauen …  Um zu überleben angepasst an jedes System. Eben kleine Leute.“ Das sagt auf Seite 16 ein „alter Bekannter“, einst Mitarbeiter der SED-Kreisleitung Suhl. „In der DDR bezeichneten wir solche vom Klassenstandpunkt aus als Kleinbürger.“ Aber: „Gehören diejenigen, die ein Leben lang fleißig für die Existenz ihrer Familie arbeiten, den Kindern Ordnung, Anstand und ‚Arbeit ist die erste Menschenpflicht‘ ‚ beibringen, gehören die zu den Kleinbürgern?“, überlegte Landolf Scherzer da. „Ist das Kleinbürgertum wirklich, wie von der marxistischen Philosophie behauptet, die Wurzel allen deutschen Übels? Oder inzwischen Bewahrer von heutzutage nicht mehr geachteten, aber wichtigen humanistischen Lebenswertmaßstäben?“

Dass sein Buch so nachhaltig wirkt, hat mit diesen Fragen zu tun, die ihn selber umgetrieben, ja gar  in eine neue Schreibrichtung gelenkt haben: aus der Weite in die Nähe. „Weil Krieg ist? Oder weil ich nicht mehr neugierig bin auf das Heute der großen Weltpolitik? … Weil ich für das Heute und Morgen der Welt meine Utopien, Hoffnungen und die einfachen Wahrheiten verloren habe? Und sie nun im Leben der kleinen Leute, in den Erzählungen und den Tagebuchaufzeichnungen der Marianne Stracke, geborene Kämpf, wiederfinden möchte?“ Aber was sind „die kleinen Leute“? Danach hat er zwanzig Personen unterschiedlichster Profession und Herkunft gefragt, vom Jauchefahrer bis zum Theaterintendanten. Ihre Antworten sind als kurze Zwischenkapitel eingefügt, so dass die „Thüringer Familiengeschichte“ eine zweite Ebene erhält. Das nachvollziehbar Konkrete in den Lebensläufen der Kämpfs, das er uns so lebendig vor Augen führt, wird mit Erkundigungen allgemeinerer Art konfrontiert, die uns über Heutiges nachdenken lassen.

„Was sind für dich kleine Leute und was dagegen die großen?“ Ehrenwert, wie sich Gabi Zimmer, bis 2020 Vorsitzende der Vereinigten Linken bei der EU, diese Unterscheidung ablehnt, weil sie dem „Respekt für jede und jeden“ widerspricht. Aber die Polarisierung lässt sich nicht wegreden. Zur Kluft zwischen Arm und Reich kommen zunehmende Unterschiede in Selbstbild und Lebensvorstellungen, die erstmal nichts mit dem Einkommen zu tun haben. Intellektuelle Selbstverwirklichung, Work-Life-Balance, Home-Office, das prägt Menschen anders als wenn sie „acht Stunden oder länger“ körperliche Arbeit verrichten, „egal ob auf dem Feld, am Fließband oder im Bergwerk“, wie im Buch ein Dachdecker aus Crimmitschau sagt. „Also … kleine Leute – sind nicht klein – sind stolz … kennen das Leben – gehen hart arbeiten – wissen, wo sie hingehören – … wählen nicht grün – finden, Politik sei ein schmutziges Geschäft – gehen nicht in die Elbphilharmonie“, so der Leiter des Thüringer Statistikamtes. Äußerungen, zu denen wir uns Gedanken machen. Hatte der Theologe Helmut Gollwitzer sogar Recht, dass „oben zu stehen und nach unten zu schauen“, nicht nur ein weit verbreitetes Bedürfnis ist, sondern dass darauf „unsere ganze Gesellschaftsordnung beruht“? Gerade dadurch würden, „Leistungen hervorgerufen“.

Der Verlust an Zukunftssicherheit, das auf dem Lande weit verbreitete Gefühl, abgehängt, ja nicht einmal bemerkt zu sein von jenen, die in der urbanen Öffentlichkeit den Ton angeben, ein  Wertewandel, der viele außen vor ließ  – was Soziologen wie Steffen Mau, Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa analysiert haben, kommt einem beim Lesen in den Sinn. Auch der Rechtsdrift, der nicht nur Linke wie Landolf Scherzer beunruhigen muss. Immer schon war er ein politisch denkender Mensch, aber inzwischen 83, stellt er sich auf Verluste ein, sucht nach dem, was gesellschaftliche Turbulenzen überdauern könnte. Wie soll man leben, wenn sich der Horizont verdunkelt? „Niemand von ihnen konnte sich aus den Zwängen seiner Zeit befreien. Genau so wenig wie du und ich. Gestern nicht, heute nicht und an keinem Ort der Welt.“

Was Marianne einst zu ihm sagte, nimmt er nun als Trost. Schwieriges durchzustehen und menschlich zu bleiben – darin sieht er die „große Kraft der kleinen Leute“. 

Landolf Scherzer: Die Kämpfs. Eine Thüringer Familiengeschichte oder Die große Kraft der kleinen Leute. Edition Ornament im quartus-Verlag, 271 S., geb., 25 €.    

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