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Wenn du aus der Bahn geworfen wirst
Katherine May: „Überwintern. Wenn das Leben innehält“
Irmtraud Gutschke
Dieses Buch begann ich zu lesen, als es auf der Insel Ischia ein Stück vom Berg abgebrochen war. Ein Erdrutsch genau dort, wo wir einen Tag zuvor noch friedlich Kaffee getrunken hatten. Im Nachbarort. Die Straße dorthin war nun gesperrt. Sowieso regnete und stürmte es dermaßen, dass man besser im Hotelzimmer blieb. Zeit zum Lesen. „Überwintern“ – den dicken Band hatte ich mir eingepackt, obgleich wir einen sonnigen Herbst erwartet hatten. Nun passte der Titel. „Wenn das Leben innehält“: Manchmal muss man sich mit etwas abfinden, was man sich anders vorgestellt hat. Das Kunststück wäre, das beste daraus zu machen. Und das genau ist das Thema dieses Buches: Wie gehst du damit um, wenn du aus der Bahn geworfen wirst? Katherine May hat das ja selber erlebt. Durch eine Kette von Ereignissen ist sie mit gerade mal Vierzig in einen Sumpf der Traurigkeit geraten und hat sich sozusagen am eigenen Schopf wieder herausziehen müssen. Immer wieder war sie voller Unsicherheit, ob sie dieses Buch überhaupt beginnen und ob sie es fertigstellen könnte. Doch dann ist es sogar auf die Bestsellerlisten der „New York Times“ gelangt.
Es traf einen Nerv, verwies auf etwas Verschwiegenes, Verdrängtes, das doch wohl alle Menschen kennen: den Frust, wenn sich Erwartungen nicht erfüllen, wenn Ziele fernrücken und wenn wir fremden Anforderungen nicht genügen können, die Peinlichkeit, aussteigen zu müssen aus dem Hamsterrad erwarteter Produktivität und Konsumfreude. „Dass Menschen phasenweise nicht mit dem ganz normalen Leben zurechtkommen, ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema“, darin hat die britische Autorin wohl Recht. „Wir werden nicht dazu erzogen, unsere persönlichen Winterperioden als solche zu erkennen, geschweige denn, ihre Notwendigkeit anzuerkennen. Stattdessen tendieren wir dazu, solche Phasen als Demütigungen zu betrachten, als etwas, das wir besser vor anderen verbergen, wenn wir die Welt nicht schockieren wollen. Nach außen setzen wir eine tapfere Miene auf, und wenn wir allein sind, fallen wir in uns zusammen. Wir tun, als würden wir die Kämpfe der anderen gar nicht sehen. Wir tun, als wäre jede dieser Winterphasen eine beschämende Anomalie, die es zu verstecken oder zu ignorieren gilt.“
Stimmt es nicht, dass auf die Frage „Wie geht’s“ gar keine ehrliche Antwort erwartet wird? Am besten, man sagt „super“ oder „bestens“ und verletzt nicht den guten Ton durch das Bekenntnis eigener Probleme. Wenn du ein Unglück benennst, das dich getroffen hat, Tod eines nahestehenden Menschen oder schlimme Krankheit, bringst du ja andere in eine unangenehme Lage. Sie können dir nicht helfen und werden selbst erinnert, dass ihnen ähnliches widerfahren könnte, woran sie im Moment nicht denken wollen. Andererseits gibt es durchaus einen gewissen Voyeurismus, von fremden Unglücksfällen zu lesen. Unter dem Label „Erfahrungen“ firmieren ganze Buchreihen, gut verdaulich und gut verkäuflich. Katherine May aber erzählt nicht so, als wolle sie fremde Neugier bedienen. Es sollte auch keine Erfolgsgeschichte sein nach dem Motto „Wie ich den Krebs besiegte“. Wir würden nicht mit ihr tauschen mögen. Erst entkam ihr Mann nach einem Blinddarmdurchbruch nur knapp dem Tode, dann wurde bei ihr eine schwere Darmerkrankung festgestellt. Sie glitt in eine Depression, kündigte ihre Arbeit. Sie fing an zu backen, Gemüse einzuwecken, hängte Lichterketten auf, und es kommt ihr zu Bewusstsein, wie „sich diese stillen Freuden aus meinem Leben verkrümelt hatten, während ich ständig herumgehetzt bin“, in „einer irren Arbeitsroutine“.
Da werden ihr viele beipflichten, aber zu bedenken geben, dass sie ja ihre Lebensunterhalt verdienen müssen. Einen Ausstieg wie den hier beschriebenen muss man sich erst leisten können. Aber die Autorin wird unter Schmerzen und Medikamenten ja dazu gezwungen, und man bewundert sie, wie sie, weil sie ja dieses Buch schreiben will, nach Auswegen sucht. Reisen unternimmt sie (oder sind es Erinnerungen daran) – nach Stonehenge, nach Tromsø zu den Polarlichtern, sie besucht Samen und Druiden, begegnet einem „Wolfsflüsterer“ und denkt über diese Tiere nach, die uns zugleich faszinieren und erschrecken, mit einer „Urangst“ erfüllen, „instinktgeleitet“. „Immer dann, wenn wir ein Symbol für den Hunger in der kalten Jahreszeit brauchen, greifen wir auf den Wolf zurück“, der uns an die Wildheit des Landes außerhalb unserer geschäftigen, hell beleuchteten Städte“ erinnert, „an die Natur, die immer noch blutrünstig sein kann und grausam“.
So changiert der Text die ganze Zeit zwischen der lebendigen, bisweilen auch schonungslosen Beschreibung eigener Erfahrungen mit dem Winter und einer Lebenskrise, die Katherine May in dieser Zeit zu bewältigen hat, und dem essayistischen Nachdenken darüber. Gegliedert nach Monaten von September bis Februar, macht uns die Autorin jene „Transformation“ bewusst, die eine „Kernaufgabe des Winters“ ist und die überhaupt für uns eine Herausforderung ist, weil sie mit unseren Vorstellungen von Geradlinigkeit kollidiert. Das Leben als zyklisch zu begreifen, widerspricht ja unserem Gesellschaftssystem, das auf Profitmaximierung setzt. Locker lassen, annehmen was kommt. Die gewohnte Hast abwerfen, Dunkelheit und Stille begrüßen. Da gilt ein sehr schönes Kapitel dem Schlaf, der für die Menschen vor der industriellen Revolution meist in zwei Phasen unterteilt war – interessant. Ein anderes folgt der Faszination des Schnees, der manchen ein herrliches Wunder ist, anderen lästig, und der bei der Autorin „die Ehrfurcht weckt angesichts einer Macht, die stärker ist als wir“.
Immer wieder geraten die Tiere im Winter in ihren Blick: die Bienen, die sich eng zusammenkuscheln und zu kleinen Heizkörpern werden, die Haselmäuse, die sich für den Winterschlaf ein fast verdreifachtes Gewicht anfressen müssen, und die Rotkehlchen, die schon mitten im tiefsten Winter zu singen beginnen. Da erinnert sie sich, wie sie kurz nach der Geburt ihres Sohnes beinahe ihre Stimme verlor. fast nur noch krächzen konnte und wie ein Gesangslehrer ihr half. Sie hat, wie es scheint, keinen festen Plan für ihr Schreiben, lässt sich von ihren Assoziationen treiben. „Manchmal hat Schreiben etwas von einem Wettlauf mit dem eigenen Kopf“, sagt sie. „Die Hand hat Mühe, mit der Flut von Gedanken Schritt zu halten.“ Da gefällt es mir, wie ich beim Lesen ihre Stimme höre, wie sie mich mitnimmt auf ihrer Gedankenreise. Ich tauche in diese Gedankenwelt ein, begegne einer Frau, jünger als ich, die für sich nach Lebensweisheit sucht und mir etwas davon abgibt. Sie hat bis zu ihrem Abschied von dort in Canterbury Creative Writing unterrichtet, lebt am Meer im englischen Whitstaple und liebt es, draußen zu sein, wie uns der Klappentext sagt.
Ein ganzes Kapitel gilt dem Eisbaden, zu dem sie sich mit einer Freundin verabredet. Und ich erlebe etwas, das ich keinesfalls selbst probieren werde. Aber ich kann es mir vorstellen, wie eine gewaltige kalte Wand einem den Atem nimmt, diesen Schock, diese Selbstüberwindung und den Stolz, es gewagt zu haben. „Beim Herauskommen wird die Haut knallrot, aber nicht rot, wie wenn man errötet oder die fliegende Hitze hat, sondern eher tief orangerot wie die Tomatensuppe von Heinz. .. Wenn ich wieder trocken und warm eingewickelt bin, fange ich an zu zittern … Noch Stunden später kribbelt das Blut in meinen Adern, als hätte ich eine Infusion mit einem sagenhaften Serum bekommen.“ Nein, das tue ich ihr nicht nach, aber sie hat es mir geschenkt, während ich im Hotelbett liege und draußen tost der Sturm, biegt die Palmen und treibt so viel Wasser über die Straßen, dass man von einer Sekunde zur anderen durchnässt wäre.
Die italienische Regierung hat den Ausnahmezustand über die Insel verhängt. Eine österreichische Reisegruppe wurde aus einem Hotel am Unglücksort zu uns evakuiert. An die hundert Feuerwehrleute treffen ein in voller Montur und werden zum Abendessen sogar vorrangig bedient, weil sie schließlich den ganzen Tag geschuftet haben. Viele sind aus anderen Landesteilen angereist. Wo schlafen sie? Auch im Hotel? Sie sehen müde aus. Nach Vermissten haben sie gesucht und schippen auch die nächsten Tage noch Erde, können nicht nach Hause zurück. – Während ich es mir in Katherine Mays Gedankenfluss bequem mache. Sie habe einen Raum für sich gefunden, schreibt sie, um „mit all meiner Rastlosigkeit und Ungeduld … im Schauspiel meiner eigenen Versunkenheit“ zu schwelgen. „Es heißt, man soll tanzen, als würde niemand zusehen. Ich glaube, das gilt auch fürs Lesen.“ Ein Wohlfühlbuch – nicht nur für die dunklen Augenblicke des Lebens.
Katherine May: Überwintern. Wenn das Leben innehält. Aus dem Englischen von Marieke Heimburger. Insel Verlag, 268 S., geb., 22 €.