Von Berlin nach Bracken
Juli Zeh entdeckt in Brandenburg die „geheime Unterseite der Nation“
Von Irmtraud Gutschke
„Über Menschen“ – beim diesem Romantitel fällt einem sofort „Unterleuten“ ein, Juli Zehs Bestseller von 2016, der im ZDF zum Dreiteiler wurde und auch auf die Bühne kam. Die 1974 in Bonn geborene Autorin, die seit 2007 selbst im Havelland wohnt, ließ damals in einem brandenburgischen Dorf Alteingesessene und Zugereiste aufeinanderprallen. Im Konflikt um den Bau eines Windparks stoßen alte Verbitterung und gegenwärtige Interessen umso heftiger zusammen, weil einer vom anderen irrige Vorstellungen hat. Im neuen Roman gibt es nur Dora, die uns an ihre Seite ziehen will. Wohl überlegte ich, ob 416 Seiten dafür nicht zu ausufernd sind. Doch bald wurde ich von der Geschichte gepackt, von Problemen, die darin angesprochen sind.
„Wie viel Abstand braucht eine Linksliberale zum nächsten Neo-Nazi?“ Diese Frage auf Seite 235 ist doch nur die Spitze des Eisbergs, genauer gesagt, nur ein Teil der Kluft, die unser Land durchzieht. Als Werbetexterin in Berlin war Dora mit der Marke „Gutmensch“ einer Jeansfirma befasst, bis diese im Corona-Lockdown den Auftrag zurückzog. Mit 36 verliert sie ihre Anstellung, wie es so manchen während der Pandemie erging. Sie lernt Schwierigkeiten kennen, die ihr vorher fremd gewesen waren. Und das, nachdem sie auf Raten ein sanierungsbedürftiges Haus auf dem Dorf mit 4000 Quadratmetern Land gekauft hatte. Was sie denn „bei den ganzen Rechtsradikalen“ wolle, hatte der Vater gemeint, der nach dem Tod der Mutter auf hohem Niveau mit einer neuen Partnerin zusammenlebt und als gefragter Gehirnchirurg im Buch noch eine Rolle spielt..
Aufgewachsen in gutbürgerlichem Haus in einem Münsteraner Vorort, Verlust der Mutter, vom Vater allein gelassen, allerdings seine mögliche Unterstützung im Rücken, ist Dora voller Selbstbewusstsein in die kreative Mittelschicht aufgestiegen. Und nimmt nun Abschied von dieser so modern erscheinenden Urbanität. Von Berlin nach Bracken – wie sich damit nach und nach eine Umwertung bisheriger Selbstverständlichkeiten verbindet, ist Thema dieses Romans – umso interessanter, weil die Pandemie nicht nur momentan vieles verändert, sondern auch künftige Auswirkungen haben wird auf die Art, wie wir leben.
Man kann Robert vor sich sehen, aus dessen Wohnung Dora mit zwei Koffern und drei Umzugskartons floh (er half ihr nicht beim Tragen), nachdem ein erbitterter Streit in einigen Plastikflaschen kulminierte. Ein selbstgerechter Haustyrann, der sich vom Klimaschutzaktivisten zum „Corona-Experten“ radikalisiert hatte, als „hätte er heimlich schon jahrelang auf das Virus gewartet“ – mit starken Worten beschreibt Juli Zeh den Typus eines Mannes, der nur noch Gefolgschaft will. Als Mitarbeiter eines online-Magazins ist Robert nicht gerade gut gestellt und kompensiert das, indem er sich als besserer Mensch geriert. Es ist sein innerer Schutz, auf andere herabzublicken. „Man ist damit beschäftigt, interessant und wichtig zu sein. Ein Wettlauf von Konformisten, die sich als etwas Besonderes inszenieren.“
Kluge Zeitdiagnosen sind die Stärke des Romans, vielleicht auch sein Ausgangspunkt. Er ist deshalb so umfänglich geworden, weil Dora auf diesem Wege konkrete Erfahrungen machen muss, um aussprechen, was die Autorin denkt. Als ein Glatzkopf bei ihr über den Zaun blickt und sich als der „Dorf-Nazi“ vorstellt, erschrecken wir mit ihr. Wird es zu Gewalt kommen? Wird sie das Feld räumen müssen? Dabei weiß Dora noch nicht einmal, dass dieser „Gote“ wegen Körperverletzung vorbestraft ist. Wie sich ihr Verhältnis entwickeln wird, mit dieser Frage verbindet Juli Zeh die Spannung des Romans.
In Bracken kam die AfD auf 27 Prozent. Sogar zwei schwule Männer könnten für Rechts gestimmt haben. Im Erschrecken darüber sucht Dora nach Gründen und findet als grünliberal gesinnte Westdeutsche in diesem ostdeutschen Dorf eben nicht die mit der deutschen Einheit versprochenen blühenden Landschaften. „Die da oben behandeln uns doch wie Idioten“, heißt es dort, wo es keinen Laden mehr gibt, das Einkaufszentrum 18 Kilometer entfernt ist, und der Bus nur selten verkehrt. Früher mal war in Doras Haus der Dorfkindergarten gewesen. Jetzt trifft sie eine alleinerziehende Mutter, die nachts arbeiten geht, um sich tagsüber um ihre Kinder zu kümmern. Wer wohl in Prenzlauer Berg die Kinder nachts allein lassen würde, überlegt sie, und wie sich überhaupt die Lebensweisen unterscheiden. Dabei gibt es wohl auch in Berlin solche Frauen, unbemerkt von jenen, die sich ein anderes Leben leisten können.
„Ich bin kein Nazi. Ich bin nur ein bisschen altmodisch“, sagt Gote irgendwann, nachdem er Doras Haus gestrichen, auch sonst geholfen hat, während seine kleine Tochter Franzi mit Doras Hündin Freundschaft schloss. Zu dritt werden sie zum „Siedlungsplatz Schütte“ fahren, wo er mit seinem Vater wohnte, bis es hieß, „das gehört jemand anderem“. Dreizehn war er, als sie weg mussten. Dass er dann bei den Ausschreitungen gegen Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen dabei war, versetzt Dora in Zorn. Was mit „Rückgabe vor Entschädigung“ im Einigungsvertrag losgetreten worden ist, hier ist es lediglich angedeutet. Es war eine Enteignung, die nicht folgenlos bleiben konnte, ebenso wie die Privatisierung der DDR-Volkswirtschaft nicht. Als Schriftstellerin hätte Juli Zeh das Thema zuspitzen müssen, als Brandenburger Verfassungsrichterin sieht sie davon ab.
Wer einfach nur Unterhaltsames sucht, findet die gut nacherlebbare Geschichte einer Ankunft und einer Heilung. Wie Dora den Spaten in die Erde stößt, wird sie zu sich selbst gebracht. Sie wird wahrnehmen, was ist, sich nicht länger am Wettkampf der Selbstinszenierungen beteiligen und die so unterschiedlichen Anderen als Mitmenschen erkennen, so wie es auch Leserinnen und Leser empfinden werden, weil die Autorin verstehen und nicht verurteilen will. „Wie wenig Polarisierung es in Wirklichkeit gibt“, denkt Dora. Aber das will ihr wohl nur während eines Dorffestes so scheinen.
„Dass alle Angst haben und dabei meinen, dass nur die eigenen Angst die richtige sei“, beschreibt genau die gegenwärtige Situation. Dass sich die einen „vor der Überfremdung, die anderen vor der Klimakatastrophe“ ängstigen, „die einen vor Pandemien, die anderen vor der Gesundheitsdiktatur“, lässt Dora befürchten, „dass die Demokratie am Kampf der Ängste zerbricht. Und genau wie alle anderen glaubt sie, dass alle anderen verrückt geworden sind.“ Da wird aus Doras Sicht eine sozialökonomische Krise im Zusammenstoß unterschiedlicher materieller Interessen zu einem mentalen Problem kleingeredet. Die Ansicht ihres Vaters, dass die Menschen lediglich „ihre persönliche Unzufriedenheit mit einem politischen Problem verwechseln“, treibt das auf die Spitze.
Juli Zeh ist mit ihrem Roman ein Gesellschaftsbild gelungen, das auch nach der Lektüre Wirkung entfaltet. Der Roman ist geeignet, in der Öffentlichkeit Diskussionen anzustoßen, wie man es sich von Literatur wünscht – darüber, wie gesellschaftliche Entwicklung eben nicht nur von den Städten aus gedacht werden kann. Wie Dora in Bracken „die geheime Unterseite der Nation“ entdeckt, damit verbindet sich eine politische Herausforderung, die über einen Roman hinausweisen muss.
Juli Zeh: Über Menschen. Roman. Luchterhand, 416 S., geb., 22 €.