Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Jens Wonneberger: Pension Seeparadies

Geheimes Grummeln

Jens Wonneberger dringt in die Tiefen (nicht nur) ostdeutscher Befindlichkeiten

Irmtraud Gutschke

Möwen und Meer, eine einsame Bank auf der Strandpromenade und ein Sonnenuntergang, der den Himmel vergoldet – opulente Bilder stellt Jens Wonneberger fein ziseliert vor uns hin. Seine Freude am malerischen Detail überträgt sich beim Lesen. Aber da ist immer auch etwas Dunkles; zunächst ahnt man es nur in der Ferne. Wenn ein Roman „Pension Seeparadies“ heißt, darf man sowieso kein Idyll erwarten.

Wie viele Krimis spielten wohl schon mit derlei Kontrasten. Hier scheinen es zunächst nur kleine Unstimmigkeiten zu sein. „Winkler hatte schlecht geschlafen in dieser Nacht, aber müde war er dennoch nicht.“ Was im ersten Satz alles steckt, weiß man erst beim letzten. Sollte der banale Streit mit seiner Frau am Vorabend schuld daran sein, dass er sie am Morgen nicht in ihrem Bette fand? Ging es wirklich nur darum, wo man den Nachmittagskaffee einnehmen wollte?  

Dass uns der Autor über tiefer liegende Details im Unklaren lässt, gehört zu seiner Erzählstrategie. Erst einmal begibt sich Winkler auf einen Morgenspaziergang. Spielt es da eine Rolle, dass jemand vor dem kleinen Supermarkt einen Wischeimer ausgekippt hat? Der Genauigkeit halber wohl, denn „in der Pfütze schwamm zwischen den Schaumresten noch das letzte Licht der Straßenlaternen …“ Futter fürs Vorstellungsvermögen – allein dadurch verschafft die Lektüre Genuss. Wir brauchen diese Übung ja auch, um uns in diesen Herrn Winkler hineinzuversetzen, der sich zunehmend um seine Britta Sorgen macht. Das dringt ihm mal erschreckend ins Bewusstsein, dann wieder weist er es von sich. Ein psychologischer Mechanismus, der Jens Wonneberger offenbar interessierte.

Da fiel mir wieder einmal ein Spruch des berühmten indischen Homöopathen Rajan Sankaran ein: Wenn jemand mit größter Entschiedenheit bekundet, nicht an Gespenster zu glauben, lohnt es sich zu fragen, wie die Gespenster aussehen. Liegt in besonders starker Abwehr womöglich die Furcht vor Identifikation? Bei seiner Suche nach Britta hat Winkler nämlich einen unsichtbaren Begleiter: Jürgen Bergthaler, den langjährigen guten Freund, mit dem er nun zerstritten ist. Schon zu DDR-Zeiten hatten sich ihre Wege getrennt. Winkler war Lehrer geworden, Bergthaler, der sich dem System nicht andienen wollte, hatte sein Geld als Fensterputzer und Taxifahrer verdient. Heute ertappt sich Winkler bei dem Gedanken, dass „Bergthalers Lebensstil, selbst dessen provokante Ansichten und Meinungen“, ihm recht gewesen wären, „um sich selbst eine gewisse Unangepasstheit zu beweisen und sich von seinen biederen Kollegen abzugrenzen …“

Gut beobachtet. Doch was brachte die beiden nun dermaßen auseinander, dass sie seit Monaten nicht mehr miteinander sprachen? „Er war ein Mitläufer, der immer mit denen mitlief, die dagegen waren“ und der „seine Außenseiterrolle wie einen Maßanzug trug“. Scharf formuliert, abfällig wie ein Urteil – und doch wird Winkler mit dem einstigen Freund nicht fertig und noch viel weniger mit sich selbst, weil er das Gespräch abbrach. Fehlten ihm die Argumente?

Der Dresdner Autor zieht uns in den Text hinein, indem er uns als Mitwisser ernst nimmt. Mitwisser von etwas Verhohlenem, Bedrohlichem, das – oft unausgesprochen – eine Stimmung prägt, die in ihrer Differenziertheit zu erklären, schon eine ganze Reihe unterschiedlicher soziologischer Analysen herausforderte (Engler, Mau, Reckwitz, Blühdorn). Bringt man es auf den Nenner „Rechts“, wird es zu einem Kampfbegriff, wie er vielleicht gerade vor Wahlen nötig ist. Aber auch von „rechts“ würde sich dieses geheime Grummeln nicht bändigen lassen. Der Groll wurzelt tief, zu vieles heizt ihn an. Und wird gerade erst chronisch, indem er in die Sprachlosigkeit sank.

Während seiner einsamen Wanderung entlang einer abgebrochenen Steilküste fragt sich Winkler, warum in seiner Debatte mit Bergthaler kein Platz für Zwischentöne gewesen ist. An Kriegsgräbern kommt er vorbei, und ihm fiel ein, „dass alles nur noch schlimmer kommen könne“. Vor der Pension sollte ein Swimmingpool entstehen, aber der Bagger stieß auf etwas Großes, Festes. Ein riesiger Findling? Wenn es nur keine Bombe war. Und warum ärgerte es ihn immer noch, wie der Mann am Nebentisch am Abend zuvor den Takt des Schlagers „Er gehört zu mir wie mein Name an der Tür“ an seinem Weinglas mitgeklimpert hatte? Will er ihn nun beim Rotwein lediglich provozieren oder ihm gar beipflichten, indem er Bergthalers Bekenntnisse zu „Muttersprache“ und „Vaterland“ aus sich selber sprechen lässt? Wie Jens Wonneberger wohl aus eigener Erfahrung in die verstörenden Tiefen (nicht nur) ostdeutscher Befindlichkeiten dringt, lässt seinen Roman unvergesslich werden.

Jens Wonneberger: Pension Seeparadies. Roman. Verlag Müry Salzmann. 175 S., geb., 24 €.     

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