Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Bekiffter Grenzverkehr

„Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste“: Jakob Hein sorgt für ein fulminantes Lesevergnügen

Irmtraud Gutschke

Von „BAM“ bis „Zonis“: Das Glossar im Anhang ist sinnvoll, weil Jakob Hein schließlich nicht nur zu DDR-Erfahrenen spricht, denen man DEFA, FDJ oder LPG nicht zu erklären braucht. Wobei diese Eingeweihten an seinem Buch wohl das meiste Vergnügen haben dürften, an diesem augenzwinkernden Einverständnis mit dem Autor. „Unter uns Pfarrerstöchtern“, wie man so sagt, weckt er Erinnerungen an die versunkenen 1980er, als die ehrgeizigen sozialpolitischen Versprechen der Honecker-Führung kaum mehr wirtschaftlich abzudecken waren. Damals noch Kind, als zweiter Sohn von Christoph und Christiane Hein 1971 in Leipzig geboren, bewegt er sich nun wie ein Insider durch die Machtetagen dieses Staates. Ja er schafft es, dieses damals Abgehobene, Fremde auf Augenhöhe zu bringen. Es waren doch auch nur Büros, wo Berichte angefertigt und Dienstbesprechungen abgehalten wurden. Es gab Begünstigung und Bespitzelung, aber es gab auch Ideale … 

Was für ein Kunststück ist hier gelungen! Allein schon, dieses in sich Widersprüchliche der DDR-Realität zu erfassen. Und nicht nur das: Aus einem Stoff, der heute nur Historiker interessieren dürfte, hat Jakob Hein einen Roman geformt, der von der ersten bis zur letzten Seite ein fulminantes Lesevergnügen ist. So witzig und dabei so glaubwürdig, dass man staunen kann. Er muss ausgiebig recherchiert haben. Bis hin zu Details, etwa wie es in der Kantine der Staatlichen Plankommission aussah, wo Jungaktivist Grischa Tannberg im fünften Stock ein Büro bezieht und sich in der Abteilung Afghanistan im „kunstvollen Warten“ üben muss. Dass es mit der „Demokratischen Republik Afghanistan“ unter Babrak Karmal damals einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit gab, dürfte nicht allgemein bekannt sein. Dass es mit den Wirtschaftsbeziehungen schwierig war, ist plausibel. Zwei nicht konvertierbare Währungen, da half nur Tauschhandel. Aber was hätte die DDR für die Lieferung von Maschinen, Fahrzeugen, Konsumgütern bekommen können?

Da kam Jungaktivist Grischa auf eine Idee. Weil sie Westgeld zu erwirtschaften versprach und nebenbei die BRD in Schwierigkeiten bringen würde, wurde sie abgenickt: Im Niemandsland am Grenzübergang Invalidenstraße findet der  „Deutsch-Afghanische Freundschaftsladen“ bald stürmischen Zuspruch. Manche Westberliner reisten nur an, um nach dem  Kauf gleich wieder umzudrehen. Wie daraus ein riesiges Geschäft wird, das Afghanistan hilft, der DDR Devisen einspielt und die Westberliner Polizei in Probleme stürzt, mit so vielen stimmigen Einzelheiten ist das beschrieben, dass man aus dem Schmunzeln nicht herauskommt.

So aberwitzig ist es gewesen, weil die BRD weder die DDR noch deren Grenze akzeptierte. Auf Westberliner Seite Kontrollpunkte einzurichten, hätte dazu im Widerspruch gestanden. Wenn in der DDR Medizinalhanf nicht als illegale Droge zählte – das pflanzliche Beruhigungsmittel Plantival aus dem Arzneimittelwerk Leipzig enthielt auch Cannabis – war das dann eine legale Handlung in Deutschland? So jedenfalls die Überlegungen von Wiebke Hangelar, Referendarin im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen.  „Im Grunde war es einfach lustig, dass ausgerechnet die Ostler Dope verkauften und damit Westdeutschland in größte Schwierigkeiten stürzten.“ Aber ehrgeizig wie sie ist, erarbeitet sie ein juristisches Gutachten mit mehreren Handlungsoptionen, das nun im Palais Schaumburg zur Diskussion gestellt wird.

Der Höhepunkt ist dann ein geheimes deutsch-deutsches Rendezvous in Bayern, wo bis auf Honecker und Kohl fast alle dabei sind, die etwas zu sagen haben. „So trifft man sich wieder“, sagt Kanzleramtschef Waldemar Schreckenberger. „Du, manchmal ist es verrückt“, antwortet Erich Mielke. Die DDR-Delegation zieht ihre Trümpfe aus dem Ärmel. Argument trifft auf Argument, und dann geht es zum Mittagessen mit Wildgulasch und Forellenfilets … Und Franz-Josef Strauß … Aber eigentlich verrate ich ohnehin schon zu viel. Das Wunder von Bayern zugunsten der DDR, aber leider zu Ungunsten Afghanistans. Es hatte natürlich andere Gründe, doch so, wie es beschrieben ist, fragt man sich, wie es anders hätte gewesen sein können. Zwei Frauen werden glücklich, und ein Mann widmet sich in ungewohnter Umgebung nun seiner Liebe zum Film. Auf dem Buchumschlag hält eine Friedenstaube ein Hanfblatt im Schnabel. „Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste“ – der Titel allein schon weckt eine solche Sehnsucht, und dann wird man dermaßen vom Text überrascht.

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste. Roman. Galiani Berlin, 251 S., geb., 23 €.

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