Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

J.M.Coetzee: Der Pole

„Ein verliebter alter Mann. Lächerlich“?

„Der Pole“: Die Liebesgeschichte von J.M. Coetzee birgt ein Geheimnis

Irmtraud Gutschke

Ein Drama, das sich hinter feiner Ironie verbirgt: Ein älterer Mann verliebt sich in eine nicht mehr junge, aber doch viel jüngere Frau. Aber sie spielt nur mit ihm. Da könnte man abwinken, denn oft schon kam sowas vor und wird sich oft noch wiederholen. Doch bleibt man voller Spannung bei der Lektüre, weil man den Ausgang der Geschichte nicht kennt, vor allem aber, weil in den beiden Menschen so viel Verborgenes ist. Es sind ja auch nicht nur diese zwei. Der Autor – er offenbart es in den ersten Sätzen – ist der dritte im Bunde. „Zuerst bereitete die Frau ihm Schwierigkeiten und bald darauf auch der Mann.“ Wohl nicht von ungefähr lässt J.M. Coetzee seinen kleinen Roman aus seiner, des Schreibenden Sicht, beginnen. Von der Frau habe er „eine völlig klare Vorstellung“ gehabt. „Nach konventionellen Maßstäben kann sie vielleicht nicht als Schönheit gelten, doch ihre Erscheinung – dunkles Haar und dunkle Augen, hohes Jochbein, voller Mund – ist beeindruckend, und ihre Stimme, ein tiefer Alt, hat eine sanfte Anziehungskraft. Sexy? Nein, sie ist nicht sexy und gewiss nicht verführerisch. Vielleicht war sie in jungen Jahren sexy …“ In „ihren Vierzigern habe sie sich eine gewisse Distanziertheit angeeignet“. Steckt nicht auch eine „gewisse Distanziertheit“ in dieser Beschreibung? Warum schiebt Coetzee die Frau so von sich weg?

Der Mann im Buch ist sogar noch drei Jahre jünger als der Literaturnobelpreisträger, der 1940 in Kapstadt geboren, seit 2002 in Australien lebt. Viel Beifall bekommt er auf seinen Lesereisen und wohl auch weibliche Aufmerksamkeit wie der Pianist Witold Walczykiewicz im Roman. Dessen Name scheint den Veranstaltern des Konzerts in Barcelona allerdings dermaßen unaussprechlich, dass er für sie nur „der Pole“ ist. Wie abschätzig das klingt! Auch der Buchtitel des zunächst auf Spanisch erschienenen Buches lautet so: „El Polaco“. Da ist von Anfang an ein Signal gesetzt: Um Fremdheit geht es hier, um Barrieren von Tradition und Sprache, um Rangunterschiede, die, wohl verleugnet, doch unterschwellig spürbar sind. Um männliche Kränkung gar, die zu sublimieren ist. „Mit seiner beeindruckenden silbernen Haarmähne“ ist „der Pole“ ein Exot. Zudem wagt er es, Chopin nicht so  romantisch zu interpretieren, wie erwartet.

Sie verstehen ihn nicht, wie auch er ihre Sprache nicht versteht. Wenn er mit Beatriz spricht – gleich denkt man an Dantes Beatrice – dann auf Englisch, das beiden hölzerner klingt, als es sollte. Für Liebeserklärungen keine gute Voraussetzung. Wie „der Pole“ abgewiesen wird und dann auch wieder nicht, wie er in der Frau einen Widerstreit der Gefühle hervorruft, zuletzt in der Nähe von Valldemossa, wo Frédéric Chopin und George Sand einen Winter verbrachten, ist ein psychologisches Kabinettstück, umso köstlicher zu lesen, wenn sich einem nach und nach das Geheimnis zu enthüllt, das wohl in dieser Geschichte steckt.

„Ein verliebter alter Mann. Lächerlich“, denkt sie. Selbstironisch klingt es, wie es J. M. Coetzee formuliert. Was soll sie denn an ihm finden, diesem „Knochengerüst“, von dem man nur hoffen kann, dass er nicht beim Beischlaf stirbt? Als ob er selbst dieser Mannes sei, der noch einmal an Liebe glauben will, doch gibt er der Frau dennoch größeren Raum im Roman. Man spürt, wie er ihr gerecht werden, sich in sie hineinversetzen, verstehen will, wie sie „tickt“. Aber darin liegt auch eine Dominanz. Hat man dieses Spannungsfeld einmal begriffen, bereitet die Lektüre umso größeren Genuss. Beatriz muss ihm als literarische Gestalt ganz und gar fassbar werden. Es liegt in seiner Macht, ihr Schicksal zu gestalten.

Was für ein unterschwelliger Kampf da stattfindet im Roman! Die Bankiersgattin, die mit ihrem Mann schon lange getrennte Schlafzimmer hat und sich dem Älteren, Fremden so überlegen dünkt, soll in ihrer praktischen Nüchternheit erschüttert werden. Sie altert ja auch und „braucht es, als Frau hin und wieder bestätigt zu werden“, wie sie weiß. Der Pianist wollte sie vergöttern wie Dante seine Beatrice. Was ging ihr verlustig, indem sie sich diesem Traum entzog? Dass sie gern verführt worden wäre, gibt sie zu. Was ist da schief gegangen? Waren seine Werbungen zu schwach, um sie zum Leben zu erwecken? Und was fesselt sie dennoch an ihm über die Zeiten? Sie ist ihn los und schreibt ihm  Briefe.

J.M. Coetzee: Der Pole. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, 144 S., geb., 20 €.

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