„Er war der mit dem Heiligenschein“
Helga Schubert folgt dem Leben Anton Tschechows und besichtigt ihr eigenes
Irmtraud Gutschke
„Alle haben ein Bild von ihm: Der Autor mit dem gütigen Blick unter dem Kneifer. Der Arzt, der Cholerabaracken und Schulen für Arme baute. Der Russland aufrüttelte durch seinen Bericht über die Sträflingsinsel Sachalin, sodass eine Regierungsdelegation dorthin aufbrach. Seine Stücke als Vorläufer des absurden Theaters. Seine Kurzgeschichten, Erzählungen und Dramen gehören zu dem Schönsten und Vollkommensten in der russischen Literatur, heißt es auf dem Lesezeichen im Buch.“ Für Helga Schubert war Anton Pawlowitsch Tschechow (1806-1904) lange schon „der mit dem Heiligenschein“. Wobei sie zugibt, das Buch über ihn auf Anfrage des Verlags geschrieben zu haben. „ich will durch das Lesen seiner Geschichten, Brief, Notizen und Dramen Mut für mein eigenes Weiterschreiben bekommen.“
Noch einmal hat sie sich in Tschechows Werk vertieft, auch seine Briefe gelesen – und das nicht nur mit dem Blick einer Literatin, sondern auch einer Psychologin. Schließlich ist sie in diesem Beruf viele Jahre tätig gewesen. Also geübt, hinter jede Fassade zu schauen. Auch hinter die eigene. „Ich war in meinem 83-jährigen Leben oft in Situationen, die mir aussichtslos erschienen.“ Darüber habe ihr Tschechows Erzählung „Gram“ immer wieder hinweggeholfen. Darin beklagt ein Moskauer Kutscher den Tod seines Sohnes, aber niemand hört ihm zu. Wie leid tut einem der arme Mann, dem am Ende nur sein Pferd bleibt, das ihm zuhört! Was könnte da tröstlich sein an seiner Geschichte? Dass Einsamkeit nun mal das Los der Großstädter ist?
Helga Schubert weiß um die Hintergründe des Textes. Sowohl seine Mutter als auch eine seiner drei Schwestern sind trotz Tschechows Behandlung an Unterleibstyphus gestorben. Deshalb hätte er beinahe seine medizinische Tätigkeit aufgegeben. Und auch für Helga Schubert gab es einen solchen Moment, als eine junge Patientin in der Nervenklinik während ihres Urlaubs Selbstmord begangen hatte. War sie nicht so ein müdes Kutscherpferd, dem andere Menschen ihr Herz ausschütten? Wie kann man da gleichzeitig schreiben? Und wie gut konnte sie Tschechow verstehen, der bei seiner Arbeit nicht abgelenkt sein wollte.
Literatur- und Selbstbetrachtung, gemischt mit Erinnerungen an Russland-Reisen. Da sie zu DDR-Zeiten stattfanden, muss man wohl eher von sowjetischen Erfahrungen sprechen, die sie zu Reportagen verarbeitete. Galina Uljanowa durfte sie besuchen. Zu Gast bei Lew Kopelew war sie eher heimlich, um ihm einen verschlossenen Brief von Christa Wolf zu überbringen. Das Tschechow-Haus in Moskau besichtigt sie und auch das in Melichowo. Er wusste, dass er an Tuberkulose litt und dass sein Leben früh enden würde. War das der einige Grund, dass er getrennt von seiner Frau lebte? Olga Michailowna Knipper, die Schauspielerin, arbeitete in Moskau, er wohnte in Jalta, weil er das Klima dort besser vertrug.
Als Helga Schubert ihre Reportage abgab, sagte der Redakteur, dass die Passagen über den Selbstmord von Stalins Frau und die Kriegsflotte am Asowschen Meer nicht gedruckt werden könnten. Ein späterer Text über eine Litauen-Reise wurde ganz abgelehnt, weil „es wohl um die Tendenz meines Berichts gehe. Es muss keinen Zusammenhang geben, aber bald darauf las ich seine Todesanzeige und erfuhr: Er war aus seiner Wohnung in einem Hochhaus in der Nähe des Alexanderplatzes gesprungen.“
Die ganze Zeit ging mir bei der Lektüre ein Tschechow-Zitat durch den Kopf, obgleich es nicht im Buch steht: „Das wahre und interessante Leben eines menschlichen Wesens spielt sich im Verborgenen wie unter dem Schleier der Nacht ab… Jede persönliche Existenz ist ein Geheimnis.“
Helga Schubert: Über Anton Tschechow. Kiepenheuer & Witsch. 98 S., geb., 20 €.