Merkwürdige Dinge
Irmtraud Gutschke
In Berlin, Bleibtreustraße, Ecke Mommsenstraße, in einer gutbürgerlichen Gegend also, hatte Herr von Rosen eine Wohnung gemietet. „Es war immer sein Wunsch gewesen, in dieser Idylle, in der es überall kleine Restaurants, Antiquitäten- und Secondhandläden gab, heimisch zu sein.“ Das lesend, ahnt man schon, dass etwas die Idylle stören wird. Besser gesagt, müsste man es schon gewusst haben, wenn man Hartmut Langes Schreiben kennt. Etwas Seltsames wird geschehen, und ich gebe zu, dass ich Seltsamkeiten liebe – in der Literatur mehr als im Leben. Detlev von Rosen also, ein bekannter Schriftsteller (der Name zeigt, wie sich der Autor auch über ihn lustig macht) fällt irgendwie nichts ein, sodass er die Fassade des gegenüberliegenden Hauses beobachtet. Wie faszinierend: Ein Mann und eine Frau schienen sich zu streiten. Und dann sah die Frau zu ihm hinüber. „Was will sie von mir?“, dachte er, zog den Mantel über, ging hinaus und drückte im Haus gegenüber auf den untersten Klingelknopf. Die Wohnung stünde seit längerem leer, sagte der Hausmeister.
Wie kann das sein? Er hatte sich doch nicht getäuscht. Eine Freundin von einst fiel dem Schriftsteller ein, mit der er sich gestritten und dann von einer Reise nach Pompeji vergeblich Besserung erhofft hatte. Könnte es sei, dass diese Claudia hier plötzlich aufgetaucht war? Gewiss, was Hartmut Lange schreibt, hat auch mit Alleinsein zu tun. „Merkwürdige Dinge“, wie es in besagter Geschichte unter dem Titel „In der Bleibtreustraße“ heißt, geschehen kaum im Familienstress, sondern eher Leuten, die Zeit zum Sinnen haben. Kraft zur Geruhsamkeit, die einem auch abhandenkommt, wenn man im Tagesablauf etwas schaffen muss. Die Forstarbeiter mit ihren Motorsägen können sich nicht vorstellen, dass eine mächtige alte Linde sich ihrer Gewalt entziehen wird. Aber es geschieht.
Ein rätselhafter Fremder in der Dämmerung, am Osloer Fjord, die Frau auf Degas‘ berühmtem Gemälde „Der Absinth“, die sich wehrt, als Alkoholikerin zu gelten, eine junge Frau aus St. Petersburg, die Trost in einem Berliner Nagelstudio sucht, der Streit eines Ehepaars, der Konsequenzen hat, ein älterer Herr im Café, den niemand gesehen haben will, Kierkegaards einstige Verlobte, die ihre Demütigung bis heute nicht verwindet und als Gespenst herumgeistert … Irgendwie sind diese Geschichten überhaupt voller Gespenster. Was wir genießen. Denn die reale Welt kann doch nicht alles sein.
In diesem Gedanken liegt der Reiz von Hartmut Langes Prosa. „Der Mensch hat die Fähigkeit, die eigene oder sonstige Natürlichkeit gedanklich zu übersteigen, das heißt, er hat ein Bewusstsein, und dieses Bewusstsein schafft eine imaginäre Welt und richtet sich danach aus“, heißt es im abschließenden Essay „Ein Schritt in die Abstraktion“. Es gibt ein „Transzendenzbegehren“, das uns zu „intellektuellen Zwitterwesen“ macht. „Wir erkennen, wollen aber auch, was für uns unerkennbar bleibt, in die Welt gesetzt wissen.“ Ein Punkt, an dem sich Religion und Kunst berühren.
Hartmut Lange: Am Osloer Fjord oder der Fremde. Novellen. Diogenes Verlag,
103 S., Leinen, 22 €.