Den wunderbaren Augenblick genießen
Irmtraud Gutschke
Ein Sehnsuchtsbuch, gerade jetzt. Sehnsucht nach Sonne und leuchtenden Farben, einem Zu-Sich-Kommen in Stille, nach all dieser Böllerei in der Silvesternacht. Man könnte es Hans-Jürgen Gaudeck ja sofort gleichtun. Ein Flug nach Mallorca wäre schnell gebucht. Ein Auto mieten und dorthin gelangen, wo er im Oktober Quartier nahm. Er verheimlicht es nicht: „Ausgangspunkt meiner Streifzüge über die Insel war das Weingut Possessio Binicomprat, das sich seit 1511 im Familienbesitz befindet und zum alten mallorquinischen Landadel gehört. Es liegt am Fuße des Berges Randa, umgeben von einem 130 Hektar großen Pinien- und Eichenwald.“
Ob er dort erst Skizzen anfertigte oder gleich vor Ort seine wunderbaren Aquarelle malte, ich weiß es nicht. Doch schon mit dem ersten Bild fühle ich mich von etwas Altehrwürdigem umfangen, das immer schon mit Schönheit im Bunde war. Es ist ein Gefühl von Zuhause-Sein. Beim Lesen und Schauen ist es einem tatsächlich, als würde man dort morgens aufwachen, im Vordergrund die Rebstöcke „und in der Ferne die feinen Linien des Tramuntanagebirges“ schauen. Ja, Hans-Jürgen Gaudeck malt mit Farben, aber auch mit Worten: die alten Steinmauern, die im Herbst schon ohne Blätter sind, bizarren Kunstwerken gleich.
War ich schon einmal in dem Städtchen Algaida? Ich glaube schon. Auch ich erinnere mich an den Marktplatz und die Drachenfiguren an der Kirche, wie sie Hans-Jürgen Gaudeck beschreibt. Und gleich packt mich so ein Fernweh. So wie er den Sonnenuntergang dort gemalt hat, so leuchtend in allen Farben, würde man dort vielleicht etwas finden, was man hier vermisst.
Aber nein, ich habe ja das Buch. Wäre ich dort, würde ich in dem kleinen Ort Randa womöglich der stolzen Pinie neben dem alten Gehöft zu wenig Beachtung schenken. Wie es ja mitunter ist, dass eigene Befindlichkeiten – fußlahm, hungrig oder einfach nur müde von allzu vielen Eindrücken – das überdecken, was man eigentlich suchte. Hans-Jürgen Gaudeck kann sich das nicht erlauben. Er muss seine Aufmerksamkeit konzentrieren, ganz und gar achtsam sein, sonst kann er diese Bilder nicht malen und nicht so über seine Erlebnisse schreiben.
„Auf den Spuren von George Sand und Frédéric Chopin“ heißt sein Buch im Untertitel. Also war zu erwarten, dass ihn seine Reise auch nach Valdemossa führt. „Wie eine Kolonie von Nestern der Seeschwalbe“, so war der Eindruck von George Sand, die ihren langen Namen Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil gegen einen kurzen männlichen tauschte und überhaupt gern Männerkleidung trug, weil sie gegen Beschränkungen protestierte, die Frauen auferlegt waren. Ihr Reisebericht „Ein Winter auf Mallorca“, aus dem hier auch ausgiebig zitiert wird, entstand 1838/39, als sie mit ihren beiden Kindern in Valdemossa war. Chopin, der zeitlebens an Tuberkulose litt, schloss sich ihnen an.
Aber nicht von ihm schreibt sie in den hier zitierten Texten, sondern von Olivenbäumen, die ihr wie „Drachen mit aufgerissenem Maul“ oder wie „zyklopische Ringkämpfer“ erscheinen. Aber vielleicht ist Chopin ja an ihrer Seite auf ihrer Wanderung Richtung Valdemossa und bei ihren Beobachtungen in Palma. Beim Lesen überlegt man, ob die Menschen noch ganz ohne jene Flüchtigkeit waren, aus der wir heute kaum mehr herausfinden. Die Autorin nimmt sich Zeit zu betrachten und zu formulieren, darauf vertrauend, dass auch ihre Leser sich in dieser Gemächlichkeit wohlfühlen würden.
Und Achtsamkeit war wohl auch die Voraussetzung, dass dieses Buch entstand. Malen bedeutet für Hans-Jürgen Gaudeck, in sich hinein zu lauschen, um Landschaften in ihrer verschiedenen Gestimmtheit mit allen Sinnen wahrzunehmen. Soller, Deiá, Llucmajor, Sant Elm, Port d’Andratx, Pollenca, Cap de Formentor, Mirador de Sa Creueta und natürlich die stolze Hauptstadt Palma … Was alles man gesehen haben muss auf der Insel, auch hier ist es zu besichtigen. Das aber irgendwie doch auf eine andere Weise, als wenn man tatsächlich dort wäre. Dieses Buch lesend und betrachtend muss man nicht an das Wetter unterwegs denken, auch nicht an das, was man zu Hause zurückließ oder was einem dort blüht. Man kann ganz und gar bei sich sein, versunken in einen wunderbaren Augenblick voller Stille, Harmonie, Schönheit.
Hans -Jürgen Gaudeck: Mallorca. Auf den Spuren von Georg Sand und Frédéric Chopin. Klaus Becker Verlag, 84 S., geb., 29 €.