Gusel Jachina hat einen Roman veröffentlicht, der den Vergleich mit Aitmatow nicht zu scheuen braucht
„Suleika Walijewa!“ – „Das bin ich.“
Von Irmtraud Gutschke
In ihrem ganzen Leben hatte sie nie so viele Male „Ich“ gesagt wie während dieses einen Monats im Gefängnis.“ Wo sie herkam, hatten Frauen sich nicht zu mucksen. „Selbst die tatarische Sprache ist so aufgebaut, dass man sein ganzes Leben lang nicht ein einziges Mal ‚Ich‘ sagen muss… Im Russischen ist das anders…“
Das Durchgangsgefängnis von Kasan: Hunderte, Tausende Familien kamen dort an, um im Zuge der „Vernichtung des Kulakentums als Klasse“ erst per Zug nach Krasnojarsk, dann in Booten weiter nach Sibirien verfrachtet zu werden. Und mit ihnen „ehemalige Menschen“, Bürgerliche, Wissenschaftler, Künstler. Aus einem privilegierten Dasein wurden sie in den Dreck gestoßen. Suleika indes hatte in ihrem tatarischen Dorf Julbasch die Quälereien ihrer Schwiegermutter, die Schläge ihres Mannes ertragen müssen und dabei noch gemeint, dass sie es gut getroffen hätte. Immerhin mussten sie nicht hungern. Ihre Vorräte versteckten sie. Doch schon wieder kommen Bewaffnete ins Dorf, um Lebensmittel zu requirieren gegen die Not im Land. „Diesmal gebe ich nichts mehr her!“, zischt Suleikas Mann und schwingt die Axt. Ignatow, der Anführer der „Roten Horden“ zieht den Revolver. Suleika wird erst einmal verschont, am nächsten Morgen aber wird sie „ausgesiedelt“; mit ihrem Pferdegespann sehen wir sie in einem langen Zug von Leidensgenossen.
Es sind starke Szenen, die Gusel Jachina in ihrem ersten Roman vor Augen führt. 1977 in Kasan geboren, hat sie dort Germanistik und Anglistik studiert und danach die Moskauer Filmhochschule absolviert. Mit ihrem Roman „Suleika öffnet die Augen“ klopfte sie zunächst vergeblich bei Verlagen an. Als die Veröffentlichung 2015 mit Hilfe einer Literaturagentur gelang, war der Erfolg überwältigend. Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet; ihr Buch wird derzeit in 16 Sprachen übersetzt. Und es dürfte nicht wundern, wenn bald auch die Filmrechte verkauft würden. Denn zweifellos hat die Autorin beim Schreiben einen Film vor Augen gehabt, den dann auch der Leser vor sich sieht.
Ein Roman über die „Entkulakisierung“ der 1930er Jahre: Da hat man Vorstellungen im Kopf, bevor man ihn aufschlägt. Soll ich mich jetzt wirklich auf so etwas Düsteres einlassen, fragte ich mich während eines Urlaubs in der Sonne. Aber 541 Seiten liest man neben der Redaktionsarbeit nicht so einfach weg. Da braucht man freie Zeit. Also los – und der Text entwickelte einen Sog, wie ich es nicht erwartet hätte.
Auch die Art, wie Gusel Jachina das Thema angeht, hätte ich nicht für möglich gehalten. In einem Interview mit Christina Links offenbarte die Autorin, dass ihre Urgroßeltern im Januar 1930 zu den Enteigneten gehörten und ihre Großmutter Kindheit und Jugend an der Angara verbrachte. Mit sieben Jahren hatte man sie abgeholt, mit 23 kehrte sie zurück. Suleika, zu Beginn des Romans bereits 30 Jahre alt, hat die gleiche Wegstrecke zurückzulegen, ehe man sie mit anderen Gefangenen ohne jegliche Existenzmittel an der Angara aussetzte. Zuvor hatten viele von ihnen beim Untergang des morschen Bootes den Tod gefunden, auf das man sie verladen hatte. Auch das ein reales Detail, so wie die Autorin überhaupt eine Menge historischer Recherchen anstellte, sich zum Beispiel auch die Viehwaggons anschaute, in denen die Gefangenen zusammenpfercht wurden. Aber das, sagt sie, sei nur das „Skelett“ des Romans.
Der Romantitel findet sich auf Seite 416: „Suleika öffnet die Augen.“ Sie streckt die Hand nach ihrem kleinen Sohn aus und legt ihr Kopftuch aufs Kissen. Sollte der Kleine aufwachen und nach ihr suchen, würde ihr Geruch ihn beruhigen. Schnell nimmt sie Jacke, Tasche und Gewehr vom Nagel und eilt in die Taiga. Inzwischen ist sie Mitglied der Jagdgenossenschaft und bringt meist reiche Beute heim.
Aus einem geduckten Wesen ist eine selbstbewusste Frau geworden. Allein schon, dass sie allein in Wald geht. Einst in Julbasch hatte sie geglaubt, dass im „Urman“ das Böse haust: „Schurale“, Waldgeister mit langen Krallen, „Albasty“, heimtückische Hexen, „Su-anasy“, langhaarige Nixen… Aber jetzt fürchtete sie nicht einmal mehr Allah, der ihr vier Töchter schon als Neugeborene genommen hatte. Denn inzwischen hat sie, sozusagen als letzten Gruß ihres Mannes, einen Sohn zur Welt gebracht: Jusuf, dessen Heranwachsen eine von vielen Handlungslinien im Roman ist. Seine Geburt an der Angara ist eine der stärksten Szenen. Auch deshalb, weil sie noch mit einer anderen eindrucksvollen Gestalt verbunden ist: Wolf Karlowitsch Leibe, Professor der Medizin, wird dabei gleichsam selber wiedergeboren.
Einst in Leningrad hatte er mit ansehen müssen, wie eine Dame, die er erfolgreich operiert hatte, durch einen Schuss getroffen wurde. Da hatte sich ein „Ei“ auf seine Glatze gesenkt, das fortan alles blockierte, was ihn auch nur im Geringsten beunruhigen konnte. Der Kontrast zwischen seiner Phantasiewelt und der grausamen Realität frappiert, ja amüsiert immer wieder und wäre allein schon einen Roman wert gewesen.
Aber hier kommen noch weitere einprägsame Gestalten hinzu, allen voran Iwan Ignatow mit seiner Willensstärke und seinen Skrupeln. Dass er in den Gefangenen feindliche Elemente sieht, wurde ihm beim NKWD so beigebracht, zugleich spürt man in ihm, ein humanistisches, ein sowjetisches Ideal: Er fühlt verantwortlich. Als unfreiwilligen Kommandanten des Lagers erleben wir ihn wie einen Robinson Crusoe, der fern der Zivilisation das Leben so organisieren muss, dass alle den Winter überstehen. Denn in dieser Einöde hätte niemand überlebt, wenn man nicht als Gemeinschaft zusammengerückt wäre. Das geschieht langsam, unter Schwierigkeiten, die ein anderer Autor freilich noch höher hätte auftürmen können, als es Gusel Jachina tat.
Sie wollte etwas zum Ausdruck bringen: eben das Erwachen der tatarischen Bäuerin Suleika, die nach strengen patriarchalischen Regeln unter fast mittelalterlichen Verhältnissen weitergelebt hätte und womöglich sogar bald gestorben wäre, hätten die „Umstände“ sie nicht gezwungen, in eine „moderne Welt“ zu wechseln. Das äußerte sie im Interview. Die Enkulakisierung als Entwicklungsschub? Der bildreiche Roman wurzelt in etwas Paradoxem, das allen bisherigen Vorstellungen zuwiderläuft. Da erinnerte ich mich an meinen ersten Russischlehrer, der in Sibirien in einem Kriegsgefangenlager war, uns mit Schrecklichem vielleicht verschonte, aber von der Taiga schwärmte und immerhin Russisch unterrichten konnte – so wie Jachinas Großmutter, als sie aus der Verbannung zurückgekehrt war.
„Ich hege keine Illusionen gegenüber Stalin und seinem Regime, aber die Sowjetzeit hat zu einer Befreiung der Frauen geführt, das ist einfach so“, meint Gusel Jachina. Was vielleicht nur einem jungen Menschen gelingt: Sie integriert die düstere Vergangenheit in eine Geschichte, die auch von großen Entwicklungen geprägt war. Das trennt sie von Aitmatow, mit dem ihr Roman verglichen werden könnte. Aitmatow befand sich auf einem Weg der Desillusionierung, was die politischen Entwicklungen in der Sowjetunion betraf. Dabei knüpfte er aber, wie Jachina, große Hoffnungen an die moralische Integrität einzelner Menschen, die deshalb einen Leidensweg gehen müssen. Ähnliches erwartet man für Ignatow, aber es wird nicht ganz so schlimm.
Die deutlichsten Parallelen finden sich wohl zu „Dshamilja“, wenngleich die tatarische Lebenswirklichkeit von Suleika viel erschreckender ist als das, was da in einem kirgisischen Ail geschah. Es ist die Energie des Aufbruchs, die beim Lesen beflügelt. Die Kraft einer schwierigen Liebe, denn Iwan Ignatow und Suleika fühlen sich zueinander hingezogen. Die Inspiration durch Malerei: Der aus Leningrad verbannte Bildhauer Ilja Ikonnikow entfacht in Jusuf ein künstlerisches Feuer. Wird es ihm, dem Sohn einer „Kulakin“, gelingen, in Leningrad zu studieren? Kam der Autorin vielleicht schon der Gedanke an ein weiteres Buch, das spätere Zeiten der sowjetischen Geschichte umfassen könnte?
„Dieser Roman ist der Art von Literatur zuzuordnen, die man nach dem Zerfall der UdSSR ganz und gar verloren glaubte“, schreibt Ljudmila Ulitzkaja im Vorwort. „Wir hatten eine ganze Phalanx bikultureller Schriftsteller, die einer der vielen Ethnien des Imperiums angehörten, aber auf Russisch schrieben: Fasil Iskander, Juri Rytcheu, Anatoli Kim, Olshas Suleimenow, Tschingis Aitmatow.., Zu den Traditionen dieser Schule gehörten eine profunde Kennnis des nationalen Materials, die Liebe zum eigenen Volk, ein von Würde und Respekt geprägtes Verhältnis zu Menschen anderer Nationalitäten und ein sensibler Umgang mit der Folklore.“ Wobei die Legende von „Semrug“, die Suleika ihrem Sohn erzählt, hier weniger eine Warnung enthält wie die mythologischen Einfügungen bei Aitmatow, sondern eine Weisheitsgeschichte mit utopischen Elementen ist.
Auf die Frage nach literarischen Vorbildern nennt die Autorin Puschkin, Dostojewski, Nabokov, Hemingway. Vielleicht hat sie ja Aitmatow gar nicht gelesen? Oder doch? Irgendwie hat man den seltsamen Eindruck: Was sie mit solcher Leichtigkeit schreibt, hat sozusagen in der Luft gelegen. Sie hat es gar nicht unter großen Schwierigkeiten erfinden müssen.
Gusel Jachina: Suleika öffnet die Augen. Roman. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Taschenbuch Verlag. 541 S., br., 14 €.