Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Grant Snider: Dein Bücherregal verrät dich

Was das Lesen alles mit uns macht

Von Irmtraud Gutschke

Wäre ich noch Literaturredakteurin mit der Entscheidungsbefugnis über ganze Seiten, hätte ich dem Band von Grant Snider vielleicht tatsächlich eine ganze Seite gewidmet, weil es bei einer Graphic Novel nicht reicht, nur die Texte vorzustellen, man muss ja auch die Bilder sehen. Da hätte ich es aber auch nicht ganz leicht gehabt, weil der Künstler meist mehrere Bilder auf eine Buchseite gebracht hat. Auf Seite 7 zum Beispiel sind es gleich 35. Da wird vor Augen geführt, wohin die Lese-Lust führen kann. An keinem Buchladen kann man vorbeigehen. Aber woher nimmt man die Zeit zum Lesen, wenn man keine „gelangweilte Erbin“ oder ein „Golf Hassender Rentner“ ist? Und was kann alles passieren, wenn die Bücher zur Hauptsache im Leben werden? Ein „Umräumunfall“ beispielsweise, wenn man unter einem Buchregal begraben wird. Oder die „leidende Ehefrau“ verliert die Geduld und wird tätlich.

Mit seinen nur knapp von Text unterlegten Miniaturbildern zieht der New Yorker Künstler uns in seine Gedankengänge. Was alles versammelt sich in seinen Bücherregalen? Was kann Lektüre mit einem machen, wenn es sich um Dystopien, Märchen, Ratgeber, Abenteuer handelt? „Die Auswahl ist riesig“, Qual der Wahl. Wo überall wären Orte zum Lesen? Im Polstersessel, am Strand, im Bus, natürlich auch im Bett. Aber im Feierabendverkehr, während einer Yogastunde oder eines Geschäftsessens, sogar in einer innigen Umarmung? Da sei wohl abgeraten. Und was kann alles passieren, wenn man in ein Buch versunken ist? Ja, das kenne ich. Wie ich als Kind lesend gegen einen Laternenmast gelaufen bin, das vergesse ich nie.

Richtig witzig ist die Seite „Streunende Bücher“. Da finden zwei ein Buch auf der Straße und geben ihm Obdach, ohne zu ahnen, was für eine Leidenschaft es entfache würde. „Bald war unser Zuhause voll von ihnen“, sie mussten also „regelmäßig raus“. Aber wohin? Die älteren unter euch werden wissen, was für ein Problem das ist. Man möchte etwas ausräumen, um Platz für Neues zu schaffen, aber Bücher kann man doch nicht einfach in die Mülltonne werfen. Mit dem Ende der DDR – vielleicht habt ihr schon mal davon gehört – wurden tatsächlich Bücher auf Mülldeponie verkippt, nicht weil sie irgendwie schlecht waren oder allzu ideologiebelastet, auch klassische Werke waren darunter, denen man keinerlei DDR-Belastung vorwerfen kann, aber die Lagerkapazitäten des Buchgroßhändlers LKG waren erschöpft, weil der Ost-Buchhandel jetzt für West-Verlage ein willkommener Absatzort war, denn in diesem Bereich herrscht immer Überproduktion. Also wurden Bestellungen bei LKG storniert, wurden Bücher zurückgeschickt. Auch Bibliotheken sortierten aus. Da hat Peter Sodann, den viele wahrscheinlich als Tatort-Kommissar kennen, aber darüber hinaus war er noch viel mehr, in Staucha, 24 Kilometer westlich von Meißen und 207 Kilometer südlich von Berlin, eine riesige Bibliothek eingerichtet und ein Antiquariat, wo fast die ganze DDR-Buchproduktion zu sehen und zum Teil auch zu kaufen ist. Die Leute bringen ihm aussortierte Bücher – und er ist traurig. „Heben sie das doch für ihre Enkel auf“, sagt er. „Aber die lesen doch gar nicht“, bekommt er dann zur Antwort.

Aber zurück zu dieser Graphic Novel: „Bücher erschließen mir neue Welten“: Da sieht man einen Jungen aus einem Buch heraus einen großen Sprung tun. Aber was ist, wenn man Fiktion mit Wirklichkeit verwechselt? Wie Snider eine „Erzähl-Achterbahn gezeichnet hat, könnte das einen Kurs für Kreatives Schreiben ersetzen. Wie baut man einen Roman auf? Welche Tücken bergen Handlungslücken und schlecht geschriebene Liebesszenen? Und was alles verbirgt sich dann hinter einem großen Autor? Ein „Kindheitstrauma“ vielleicht, ein „Moment der Selbsterkenntnis“, „krankhafter Ehrgeiz“? „Eine vernachlässigte Ehefrau“ hat er in jedem Fall. Wie schreibt man seine Memoiren? Sollte man mehrere Bücher gleichzeitig lesen? Manchmal kauft man ein besonders geliebtes Buch sogar zweimal, weil es schon auseinanderfällt. Auch bekennt der Autor, als Erwachsener wieder Freude an Kinderbüchern zu haben, und er macht uns mit seiner  „Ferienpflichtlektüre“ bekannt. Man findet ein Plädoyer für von Kinderbüchern vernachlässigte Tiere und eine Auseinandersetzung mit schlechten Bilderbüchern. Wie kann man Bücher sortieren? Wie umgehen mit Lese- und Schreibblockaden? Das „Scheitergespenst“ quält dich Tag und Nacht. Da helfen auch „Trostliteraturpreise“ nicht. „Wir sind introvertiert“ – da stimme ich zu. Wer schreibt, der ist so oder wird so – in sich selbst eingeschlossen, weil ständig in Gedanken. Alles hat seinen Preis. Und was das Geld betrifft, wir sehen in diesem Buch viele berühmte Autoren, die noch einen andren Brotberuf brauchten. Den „Tagesplan einer Autorin“ kann ich unterscheiben. Nur Yoga am Abend fehlt. Dagegen immer mal Netflix zur Ablenkung. Vielleicht ist das ja ein Laster, aber danach schlafe ich besser. „Ein Gedicht schreiben ist wie Fahrrad fahren“ – so anschaulich Snider mir das vor Augen führt, Fahrrad fahren kann ich leider nicht – schon wieder so ein persönliches Bekenntnis – und meine letzten Gedichte habe ich in meiner Internatsoberschule geschrieben. Ich schickte sie an eine Zeitschrift und erhielt die Antwort: Nicht ausgereift. Da habe ich die Sache gelassen. „Gedichte verstehen“ gehört zu den schönsten Seiten im Buch. Was Bücher alles sein können – Spiegel, Fenster, Schiebetüren, Trittsteine, Mäntel, Anker, Sprungbretter, Rettungsluken, ruhige Ecken, warme Decken, fliegende Teppiche, Leuchtfeuer für neue Leser*innen – das will ich mir merken. Zum Glück hat der Band ein Register mit den Überschriften der 124 Seiten. Eine Fundgrube, wie man so sagt. Sie wird mir dienlich sein.

Grant Snider: Dein Bücherregal verrät dich. Momente, die du kennst, wenn du Bücher liebst. Aus dem Englischen von Sophia Lindsey. Penguin Verlag, 127 S., geb., 16 €.

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