„Diese Freundlichkeit, davon lebe ich“
Gisela Steineckert wir 90 und könnte nicht anders, als tätig sein
Von Irmtraud Gutschke
Rostock, Neubrandenburg, Güstrow, Wismar, Putbus, Pasewalk, Anklam … Wo überall allein in Mecklenburg-Vorpommern hat Gisela Steineckert auf der Bühne gesessen, ein aufmerksames Publikum im Blick, besser gesagt, jeden einzelnen im Saal. Unsichtbare Fäden spannt sie aus, ein Resonanzraum entsteht. Während sie von sich selber spricht – viele ihrer Bücher sammeln ja ihre Erinnerungen, Reflexionen –, fühlen andere sich persönlich gemeint. Und nach der Lesung treten sie zu ihr hin, um ihr das Herz auszuschütten.
Immer wieder habe ich darüber nachgedacht, worin ihr künstlerisches Geheimnis besteht. Wurzeln hat es wohl in ihrer immensen Lebenserfahrung, die sie in sich so verarbeitet, dass etwas davon ins Heutige und Künftige weist. Wer 1931 geboren wurde, hat ja den Krieg noch erlebt. Noch dazu kam das Mädchen Gisela in ärmlichsten Verhältnissen zu Welt. Ihre ersten anderthalb Jahre verbrachte sie mit ihrer Schwester in einem Waisenhaus, weil die Mutter – eine schöne, lebenshungrige Frau – ohne feste Bleibe war. Nachdem sie geheiratet hatte, nahm sie die Kinder zu sich, stellte sie zur Heimarbeit an und schlug sie. Einfach, weil sie ihnen übelnahm, wie sie existieren musste. Besonders schlimm war es, wenn sie aus dem Kino kam … Wenn Gisela Steineckert davon erzählt, leuchtet aus der dunklen Erinnerung ein Verstehen. Und man staunt beim Zuhören, wie jemand so heil aus einem solchen Trauma herauskommen kann. „Schon sehr früh habe ich beschlossen: Ich will so nicht leben, ich will das nicht. Wenn sie mich ohrfeigte, habe ich gedacht, ich würde nie jemanden schlagen.“
Ein Ich-Bewusstsein allem zum Trotz. Entschlossenheit: „Wenn du das jetzt lernst, kannst du es.“ Lesen hat sie sich schon im Vorschulalter mit der Fibel der Schwester beigebracht. Als sie 1941 per Kinderlandverschickung nach Oberösterreich kam, war der „Herr Oberlehrer“ dort von ihr so begeistert, dass er sie in den ersten beiden Klassen unterrichten ließ. Ansonsten arbeitete sie wie eine Magd auf dem Bauernhof, wo sie wohnte. „Und ich habe mir nie leidgetan dabei. Der Satz galt: Ich mache es, ich werde es denen beweisen.“
Wie sie diese Lebensenergie immer wieder in sich wachgerufen hat bis heute, gehört zu Gisela Steineckerts erstaunlichen Eigenschaften. „Dass ich früh schon wissen, verstehen, dass ich schreiben wollte, hatte mit mir zu tun, aber auch mit dieser elenden Existenz, über die ich hinauskommen musste.“ Dass sie es nie auf eine Universität schaffte, tut ihr bis heute leid. Nach dem Krieg musste sie Geld verdienen für sich und ihre kleine Tochter Kirsten, die später Germanistik und Kulturwissenschaft studierte und inzwischen selbst Autorin mehrerer Bücher ist. Mit dem Briefband „Ach Mama, ach Tochter“ treten beide zusammen bei Lesungen auf. Aber damals teilten sie sich 11 Quadratmeter auf einem Dachboden ohne Heizung, nachdem die Ehe mit jenem Mann auseinanderging, dessen Namen sie behielt, weil auch das Kind so hieß: Steineckert.
Auch diese schwere Zeit prägte ihr Leben. Sprechstundenhilfe, Sachbearbeiterin, ab 1957 der gewagte Sprung in die Freiberuflichkeit, indem sie Artikel für diverse Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Sechs Kinderhörspiele hat sie verfasst. „Und bald stand Heinz Kahlau bei mir auf der Matte: Wollen wir nicht zusammen an einem Film arbeiten?“ Die Ehe mit ihm war kurz. Sie hatte die Idee gehabt von zwei gleichgesinnten Menschen, aber er sah sie nicht als gleichwertig an. Wie Männer auf Frauen herabblicken, sie konnte es nicht dulden, aber mütterlich nahm sie sich den Kindern an, die nicht die eigenen waren. Schreiben mit drei kleinen Gören im Haus? Auch das hat sie geschafft.
Scheitern und wieder aufstehen: Eine illustrierte Anthologie „Liebesgedichte“, trotzig der damaligen Lyrikdebatte entgegengestellt, ist 1962 über die erste Auflage nicht hinausgekommen, weil sie es ablehnte, einen Grafiker und drei Dichter rauszunehmen. Mit dem 11. Plenum 1969 sind zwei ihrer Filme gestorben. „Musst du lernen, Tausendfüßler zu sein, dachte ich.“ Es gab ja schon den Oktoberklub, 1966 als Hootenanny-Klub in Berlin gegründet. Die 35-Jährige inmitten anderer junger Leute: Viele Sängerinnen und Sänger machten später Solokarrieren. Einer von ihnen war Jürgen Walter, mit dem Gisela Steineckert eine Liebe verband.
Allein für ihn hat Gisela Steineckert 400 Lieder geschaffen. Insgesamt sind es zehn Mal so viele – für Dirk Michaelis („Als ich fortging“), Uschi Brüning, Veronika Fischer, Frank Schöbel, Angelika Neutschel, Uli Schwinge und andere. Jetzt auch für Arnold „Murmel“ Fritzsch. Sie schreibt ihnen die Texte auf den Leib und schenkt sie ihnen, freut sich sogar, wenn sie mit den Sängerinnen und Sängern so verschmelzen, als seien sie ihnen selber eingefallen. Wie künstlerisch produktiv sie über all die Jahre war! Von über 40 Bänden mit Gedichten und Prosa („Presente“, „Die blödesten Augenblicke meines Lebens“, Das Schöne an den Männern“, „Das Schöne an den Frauen“, „Das Schöne an der Liebe“, „Immer ich“, „Eines schönen Tages“ usw.) ist „Langsame Entfernung. Gedanken, Gedichte und Voraussichten“ der jüngste. In der Zeit, als sie zu Hause festsaß, weil keine Veranstaltungen stattfinden konnten, hat sie rekapituliert, was ihr wichtig war, hat in Gedanken Menschen zu sich gerufen, die ihr nah gewesen sind. Vom Einst kommt sie ins Heute, vom Einzelnen aufs Grundsätzliche, was das Leben betrifft: die Güte und Geduld, die wir einander schenken sollten, die vielen persönlichen Bedrückungen, die es dennoch gibt, und die „Vorstellung von einer Zukunft, in der Menschen mit weniger Angst, Gewalt und Unterdrückung leben könnten“.
Wie sie immer auf Augenhöhe mit Lesenden und Zuhörenden bleibt, die dann dennoch zu ihr aufschauen, das ist das Besondere an ihr. Absichtsvoll meidet sie jede Überhöhung, bedient sie sich der Alltagssprache. Ob Lieder, Gedichte oder Prosa – das Schreiben empfindet sie als „eine Gabe zu jemandem hin“. Also „angreifbar und begreifbar“ bleiben, sagen, was man denkt und fühlt. Dass ihr großes Publikum vornehmlich im Osten dieses Landes beheimatet ist, schafft etwas Verbindendes, zu dem sie sich bekennt. Nicht die einzige war sie, die in der DDR aus armen Verhältnissen einen Aufstieg schaffte, obgleich sie dieses Wort nie gebrauchen würde, weil sie nicht in Hierarchien denkt. „Damals sah ich vieles kritisch, heute noch mehr. Aber die DDR war mein Zuhause. Sie hatte ihre Chance, und hat sie vertan. Dennoch, da ist etwas verloren gegangen, das war noch nicht zu Ende gelebt…“
An ihrer Schreibhaltung, sagt sie, habe sich eigentlich nichts verändert. „Es gibt bei mir wahrscheinlich einen Grundoptimismus, eine Grundhoffnung, eine Grundüberzeugung: dass der Mensch fähig ist, zu denken und zu lieben. Mich in Bitterkeit verkriechen – nein, das kommt nicht in Frage.“ Was sie mitunter schmerzt: als Präsidentin des Komitees für Unterhaltungskunst 1984-1990 im Nachhinein für staatlichen Restriktionen verantwortlich gemacht zu werden, gegen die sie sich oft genug wehrte. Viele blieben ihr dankbar, einige wenige, für die sie eingetreten ist, nahmen ihr übel, dass sie überhaupt für sie eintreten musste. „Du hattest es in der DDR doch mit solchen Starrsinnigkeiten zu tun, wenn du im Lande agieren, etwas besser machen wolltest und es dir nicht genug war, dich ärgerlich zurückzuziehen“, sagt sie. Das sei etwas gewesen, das sie mit ihrem Mann, Wilhelm Penndorf, verbunden hat, „dass man eines nicht werden darf vor sich selber: schäbig.“
Wilhelm, die große Liebe ihres Lebens. Ein Mann wie ein Fels, der sogar seine Arbeit als Musikdirektor beim Rundfunk aufgab, um ihr den Rücken frei zu halten, dessen großes Wissen sie bewunderte und den sie während seiner schweren Krankheit pflegte bis zum Tod. Es tröstet sie, dass sie auch heute noch in Gedanken mit ihm sprechen kann. In ständigem Kontakt ist sie mit Enkelin Laura, bezaubert ist sie von der kleinen, klugen Urenkelin Leni-Marie.
Von einer Sehnsucht spricht sie, tief in der Seele, die sie seit ihrer Kindheit hat: „etwas zu machen, das du noch nicht gemacht hast.“ Das Alter setzt Grenzen. Aber Gisela Steineckert könnte nicht anders, als tätig zu sein. Neue Lieder schreibt sie, ein vierter Band mit Briefen ist im Entstehen, und eine Sammlung Weihnachtstexte wäre auch nicht schlecht. Veranstaltungen, auf die sie sich freute – im Dominikanerkloster Prenzlau, in Gägelow, in Schwerin – mussten indes abgesagt werden. Ob sie wohl im Herbst in Cottbus, Pirna, Magdeburg ihren Leserinnen und Lesern wieder in die Augen schauen kann? „Diese Freundlichkeit, die sich zwischen den Menschen und mir abspielt, davon lebe ich. Das ist mein tiefstes Lebensgefühl: Wir gehören zusammen. Wir wissen voneinander. Du könntest Migräne haben und lahmen könntest du, aber auf der Bühne tut dir nichts mehr weh. Du hast kein Alter, hast keine Krankheit, du siehst die Leute, und es fällt ein Glanz über dich.“