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Versuchungen der Nostalgie
In Georgi Gospodinows köstlichem Roman „Zeitzuflucht“ steckt eine Warnung
Irmtraud Gutschke
Vielleicht hat der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov selber schon einmal daran gedacht hat, wie es wäre, sich eine geschichtliche Zeit aussuchen zu können, und welche Folgen es hätte, die Uhr sozusagen zurückzudrehen.
Da begibt sich der Ich-Erzähler in diesem Roman sozusagen in ein Experiment, das er anfangs sogar ganz lustig findet. „Am Garderobenständer hing ein kurzer, blassgrüner Mantel mit zweireihigen Holzknöpfen. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Das war der Mantel meiner Mutter. Als würde gleich die Tür zum Wohnzimmer aufgehen, das typische Reliefglas würde aufblitzen und sie stünde dort – jung, etwas über zwanzig, viel jünger als ich jetzt.“ Sie war natürlich nicht da, aber alles sah genauso aus, wie er es kannte. Er öffnet die Tür zum Kinderzimmer, wirft sich auf sein Bett. Die Tapeten mit den blassgrünen Rauten waren so, wie er sie in Erinnerung hatte, sogar seine Spielzeugautos waren da. – Aber das ereignet sich eben nicht in Bulgarien, sondern in der Schweiz, wo sein Freund Gaustín ein Sanatorium eingerichtet hat.
Zunächst für Alzheimer-Kranke. Zumindest Teile ihres Gedächtnisses würden sich wiederbeleben lassen, wenn man sie in die vertraute Umgebung einer ihnen lieb gewordenen Zeit versetzt. Das klingt vielleicht plausibel. Die Frage ist nur, wie man herausfinden kann, was den Einzelnen auf diese Weise motiviert. Und wüsste man es, wie sollte es realisierbar sein? Bestenfalls ganz wenigen betuchten Leuten käme es zugute.
Aber lassen wir das Räsonieren. Das ganze ist ein Gedankenkonstrukt, ein reizvolles auf jeden Fall. Erinnert ihr euch an die Holodecks im „Raumschiff Enterprise“? Durch künstliche Intelligenz wird dort jede gewünschte Realität simuliert. Und hat man es satt, ruft man „Ausgang“. Im Schweizer Sanatorium des Psychiaters Gaustín ist jede Etage aufwändig einer anderen Zeit gewidmet. Gaustín selbst, Alterspsychiater, hat ja einen Hang zur Gegenwartsflucht und trifft den Ich-Erzähler in einem Zimmer der 60er Jahre. Wann waren welche Filme in Mode, welche Musik, wie kleideten sich die Leute, wie rochen die Seifen? Da soll der Ich-Erzähler den Freund beraten. Der hat ein Faible für solche Einzelheiten, wie auch der Autor dieses Romans.
Der Bulgare Georgi Gospodinov ist tatsächlich einer der eigenwilligsten Schriftsteller unserer Zeit. Einst soll er sich mit Gedanken getragen haben, in Sofia ein Museum über die sozialistische Zeit zu eröffnen, realisiert hat er ein Oral-History-Projekt, bei dem Menschen ihre Biografien erzählten. Nicht aus Nostalgie, im Gegenteil. Mit seinem Roman ist Gospodinov eine unheimlich aktuelle, manche sagen, fast hellseherische Allegorie auf unsere Gegenwart gelungen.
Doch zurück zu dieser „Klinik für Vergangenheit“. Sie steht in der Schweiz hat betuchte Investoren und vor allem natürlich betuchte Patienten. Denn der Aufwand kostet. Sogar authentische Zeitungsausgaben von früher werden nachgedruckt, damit sich die Kranken wohlfühlen.
Doppelbödig ist vieles, was wir in der „Klinik für Vergangenheit“ erleben. „Herr N.“ trifft „Herrn A.“, der vom Geheimdienst auf ihn angesetzt war. Wie makaber: Er ist dem Spitzel gar dankbar, dass er ihn an seine Geliebte erinnert, die jeden Donnerstag zu ihm kam. „Herr A.“ aber plaudert schamlos drauflos, wie er die Frau erpresste, und verlässt sich darauf, dass „Herr N“ seine Gefängnisqualen vergessen hat. „Muss man die Angst erwecken, das Gedächtnis für Angst?“, überlegt der Ich-Erzähler. Ein Alter, den sie oft herbrachten, versteckte sich gern hinter dem Vorhang. Eine Alte wollte keinesfalls unter die Dusche …
Schrecken der Vergangenheit und Gegenwartsfurcht. „Es ist eine globale Demenz im Anmarsch“, so Gaustín. Ins Sanatorium kommen zunehmend auch Jüngere, die sich im Heute verloren fühlen. So steckt im Titel „Zeitzuflucht“ etwas Umfassendes: Angst vor Gegenwart und Zukunft, ein Sog in die Vergangenheit.
Der Roman ist ein Gedankenspiel. Mal heiter, mal bissig, mal bitterernst, birgt er eine melancholische Unterströmung: Der Autor teilt mit uns Gedanken über das Älterwerden, das Vergessen, die Sorgen darum, was kommt. Das Fremdheitsgefühl – grau und trist, wie es in Wirklichkeit ist, wird hier mit erzählerischer Phantasie umhüllt. „Die Vergangenheit ist nicht nur das, was dir passiert ist. Manchmal ist sie jenes, das du nur erfunden hast.“
Versuchungen der Nostalgie: Irgendwann würden solche Kliniken vielerorts stehen, meint Gaustín, eines Tages könnte es gar „einen ganzen Staat der Vergangenheit“ geben. Was wäre, wenn sich Bürger per Referendum ihre Wunschzeit aussuchten könnten? Was für ein Gedankenspiel! Die Europäische Union würde zerfallen, klar, wenn die Spanier die 80er, die Dänen die 70er, die Italiener die 60er, die Polen das Jahr 1989 wählten, kurz, wenn verschiedene Länder fortan zu verschiedenen Zeiten existieren würden. Weil sich die Westdeutschen für ihre 80er entschieden haben, müssen sie sich wieder mit der deutschen Teilung abfinden.
Und Bulgarien? Mit verzweifelter Ironie zeichnet der Autor ein zerrissenes Land. Die „Sozis“ schwenken rote Fahnen und holen Dimitroffs Mumie auf die Tribüne. Die nationalistischen „Recken“ tragen zu Pumphosen Atlaswesten, alte Säbel und Dolche in der Hoffnung auf ein neues großbulgarisches Reich. Eine riesige bulgarische Flagge, getragen von 300 Drohnen schwebt in der Luft, bis ein junger Mann seine Repetierbüchse hebt … Zwei feindliche Lager – ein giftiges Gemisch würde entstehen, wenn sie koalieren. Dembi, Schulfreund des Erzählers, macht mit beiden Geschäfte, indem er Kundgebungen organisiert für dies oder jene politische Idee und arbeitslose Schauspieler engagiert. „Das ist das neue Theater, im Freien, mit Menschenmengen, die noch nicht einmal wissen, dass sie an der Aufführung teilnehmen. .. „Ich besorge sozusagen Statisten für Kundgebungen und Revolutionen.“
Was da ausgemalt wird als köstliche Satire ist ein beängstigendes Bild für den vielerorts erstarkenden Nationalismus, den sich Machtpolitiker zunutze machen. Ukraine, Russland und der Westen – der Roman ist vor dem Krieg entstanden. Nun liest man ihn vor diesem Hintergrund. In einer Zeit von Umbrüchen und Krisen locken aberwitzige Vorstellungen von Stärke. Vielerorts. Da hat sich Gospodinov ausgemalt, wie 2024 in Sarajewo das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand vom 28. Juni 1914 nachgespielt wird. Das ist nicht nur makaber. Historische Reenactments, Erzählungen von vergangener Größe sind tatsächlich ein Trend. 2029 dann – im Epilog – wird in Polen der Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 in Szene gesetzt. Ein Schuss fällt …
Etwas ist dabei kaputtzugehen, bitter zu werden, zu müffeln, sich zu verfinstern und kalt zu werden, mit meinen fünf Sinnen spüre ich es.“ Hat man nicht auch dieses Gefühl? Die schöne Idee einer „Zeitzuflucht“ hat am Ende des Romans ihre Unschuld verloren. Denn die Schichten der Vergangenheit, die sich unter der Gegenwart befinden, sind wie alte eiternde Wunden. Da rufen Kränkungen nach Vergeltung, wird einstige Größe zum Aufruf an Heutige. Da gibt es die Gefahr, dass sich eine Spirale der Gewalt weiter dreht. Ein unterhaltsamer und dabei hochpolitischer Roman. Beim wiederholten Lesen wird man immer wieder neue Facetten entdecken.
Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht. Roman. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Aufbau Verlag,
342 S., geb., 24 €.