Die Machtergreifung
George Orwells „Farm der Tiere“ ist bedenkenswert noch immer
Von Irmtraud Gutschke
Zunächst einmal sei köstliche Lektüre versprochen – auch für jenen, die Orwells „Farm der Tiere“ bereits kannten, lohnt sich das Wiederlesen in der neuen Übersetzung von Lutz-W. Wolff. Aber viel mehr potenzielle Leser gibt es noch, die lediglich von dieser Parabel gehört haben, die trefflich zum Kalten Krieg passte gegen die Sowjetunion. George Orwell schrieb sie allerdings, als die Antihitlerkoalition eine Notwendigkeit war. So zuckten mehrere britische Verleger vor seinem Angebot zurück, wie Lutz-W. Wolff in seinem überaus interessanten Nachwort schrieb.
War Orwell ein Antikommunist? Im Gegenteil! Er war ein Linker, einen demokratischen Sozialisten würde man ihn heute nennen, aber besonders nach seinen Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg, der auch ein Krieg unter Linken war, weil die Kommunisten jene bekämpften, die sie als Anarchisten betrachteten, sah er, wie tief die Kluft war zwischen seinen Idealen und der Wirklichkeit in der stalinistischen UdSSR. Mit diesem Buch hat er sich Luft gemacht. Zu Recht erheben sich die Tiere auf einen Bauernhof gegen den Mann, der sie ausbeutet und peinigt. Sie haben einen klugen Anführer in dem Eber Old Major, doch als dieser stirbt, tritt ein machtbesessener Nachfolger an seine Stelle: das Schwein Napoleon. Da an Lenin und Stalin zu denken, ist auf jeden Fall zu kurz gegriffen. Die künstlerische Kraft dieser Parabel liegt in der Warnung, wie jeder Aufstand im Sinne von Gerechtigkeit zugleich den Keim von neuer Ungerechtigkeit in sich bergen kann. „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“– was geschieht, wenn der Zorn der Unterdrückten sich Luft macht? Gibt es da nicht die Versuchung, sich an Stelle derer zu setzen, die auf sie herabgesehen hatten? Und nicht nur dies: Wenn ein Land, in dem jeder Mensch frei atmen sollte (so hieß es ja in einem berühmten sowjetischen Lied) von außen und innen bedroht ist, werden sich allein deshalb hierarchische Strukturen bilden.
Vielerorts in der Welt gehen jetzt schon Menschen auf die Straße, um grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zu fordern. Neue „Führerinnen“ und „Führer“ können sich von ihnen getragen fühlen. Und es bleibt im Verborgenen, inwieweit sie eigenen oder fremden Machtinteressen dienen. Und trotzdem müssen die Proteste sein? Was kann man tun, damit sie nicht entarten?
Lutz-W. Wolff weist im Nachwort noch auf einen anderen Aspekt hin: die Tiere im Roman wehren sich gegen den Menschen. Angesichts all dieser ernsten Fragen gelingt Ilija Trojanow in seinem Vorwort eine Geschichte von heiterer Gelassenheit.
George Orwell: Farm der Tiere. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Ilija Trojanow. Deutscher Taschenbuch Verlag, 192 S., geb., 20 €.