Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Florentine Anders: Die Allee

„Architekten sind Musiker“

„Die Allee“ von Florentine Anders: Ein fulminanter Familienroman um Hermann Henselmann

Irmtraud Gutschke

Verzweifelt lief Isa Henselmann im Spätsommer 1960 auf die Kreuzung Frankfurter Tor einem himmelblauen Trabant entgegen. Beim Aufprall wurde „nur“ ihr linkes Bein verletzt und blieb seitdem kürzer als das rechte. Dass sie hätte tot sein können und sie selber dann gar nicht zur Welt gekommen wäre, dieser Gedanke wird Florentine Anders gekommen sein, aber sie belässt es bei dieser dramatischen Szene zu Beginn ihres Buches. Erst später klärt sie die Hintergründe auf.

Statt dessen ein Schwenk ins Jahr 1931, als sich Isas Mutter Isi mit gerade mal 16 in den zehn Jahre älteren Architekten Hermann Henselmann verliebt. Wie in einem Film sehen wir die beiden vor uns im vornehmen Salon von Isis adligen Eltern. Dann „1931 Hermann und Isi in Montreux“ – sie werden sich näherkommen und durch manche Krise gehen.

In kurzen, chronologisch geordneten Kapiteln lässt Florentine Anders die Geschichte ihrer großen Familie Revue passieren. Detailliert und anschaulich erzählt sie, spannend bis zum Schluss. Es ist ihr erstes Buch, und man staunt wirklich, wie ihr das gelingt. Gerade Familiengeschichten sind ja von Langatmigkeit bedroht und können, je weiter sie verzweigt sind, auch unübersichtlich werden. Auf welche Weise die Autorin diesen Schwierigkeiten aus dem Wege geht, allein das ist interessant zu erleben.

Aber machen wir uns nichts vor: Es ist die Strahlkraft eines bekannten Namens, die uns in die Lektüre zieht. Beim Titelbild habe ich an das berühmte Dreierbild von Marx, Engels und Lenin gedacht, nur dass Hermann Henselmann von zwei lachenden selbstbewussten Frauen flankiert wird. Da hat die begnadete Buchgestalterin Kat Menschik gleich deutlich gemacht, worum es im Roman geht: um Eigensinn männlicher wie weiblicher Ausprägung. Mit ins Bild brachte sie Henselmanns Entwürfe: das Hochhaus an der Weberwiese, das Haus des Lehrers mit der Kongresshalle, der „Turm der Signale“ als Vorlage für den Fernsehturm, die Bebauung des Leninplatzes, das Uni-Hochhaus in Leipzig …

Der Band „Die Allee“ (einen besseren Titel hätte es nicht geben können) ist ein trotziges Signal vor dem Hintergrund aktueller Verhältnisse: Wer immer sich für die DDR interessiert – noch oder erst jetzt – kommt an diesem Buch nicht vorbei. Zusammen mit der Geschichte ihres Großvaters, ihrer Großmutter und ihrer Mutter hat Florentine Anders einen Gesellschaftsroman geschaffen, der von 1931 bis 1995 reicht. Eine starke Persönlichkeit in den Wirren der Zeit: Hermann Henselmann ließ sich nie unterkriegen, suchte und fand immer wieder Wege, seinem Talent treu zu bleiben. Der 1905 geborene Sohn eines Bildhauermeisters strebte in die internationale Architektengilde, musste aber bald mit Zuständen zurechtkommen, die seinen kosmopolitischen Ambitionen widersprachen. Nicht nur wegen seiner jüdischen Wurzeln, von denen ich bislang nichts wusste, geriet er mit dem NS-Regime aneinander. Nach Kriegsende kam er als Stadtbaurat in Gotha, ab 1946 als Direktor der Hochschule für Baukunst und Bildende Künste nach Weimar, ab 1949 nach Berlin als Abteilungsleiter im Institut für Bauwesen der Akademie der Wissenschaften. In herausgehobene Positionen, fühlte er sich aber die ganze Zeit in seinem architektonischen Ehrgeiz auch ausgebremst und musste Kompromisse eingehen. Da hat Florentine Anders etwas ergründet, was typisch für viele war, die in der DDR schöpferisch arbeiten wollten.

17. Juni 1953, Mauerbau, 11. Plenum, „Prager Frühling“, Biermann-Ausbürgerung … Stationen der  Zeitgeschichte im Ensemble realer Personen: Ulbricht, Honecker, Brecht, Robert Havemann, der durch die Heirat mit Isas Schwester Karin mit zur Familie gehörte, Manfred Krug, Alex Wedding, Brigitte Reimann, der Jazzmusiker Hermann Anders (hier nur Hermi) genannt, Benno Pludra … – das MfS-Interesse an diesem illustren Kreis eingeschlossen. Hinzu kommt so gut wie alles, was Frauen widerfahren kann: Vergewaltigung, Abtreibung, männlicher Verrat. Isi wollte eigentlich auch Architektin werden, doch bekam sie acht Kinder. Ihre Tochter Isa hatte fünf, mit denen sie zeitweise allein dastand und Persönliches zurückstecken musste. Man überlegt beim Lesen, wie männliche Dominanz ihre Spuren hinterlässt. Charismatisch stark war Hermann Henselmann gewesen, als Familienoberhaupt verantwortungsbewusst, aber auch cholerisch, ja gewalttätig zuweilen. Er brauchte das Herausfordernde und blieb in seinem Innern frei. „Man kann jede Wand zum Einsturz bringen, man muss nur lange genug dagegenlaufen“, wird er im Buch zitiert. „Architekten sind Musiker ….“  Seiner Enkelin ist es gelungen, einen dynamischen, widersprüchlichen Charakter vor uns hinzustellen. Warum man ihn lieben kann, verstehe ich wohl.

Florentine Anders: Die Allee. Galiani Berlin, 352 S., geb., 24 €.

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