Ich: ein Anderer
Dostojewskis Roman „Der Doppelgänger“ in seiner Urfassung
Von Irmtraud Gutschke
Als Fjodor Dostojewski diesen Roman im Januar 1846 beendete, fast zeitgleich mit „Arme Leute“, der Begründung seines Ruhms, hatte er eine gänzlich andere Meinung von ihm als seine damaligen Kritiker. Die erwarteten von ihm ein realistisches, auch sozialkritisches Werk und begegneten hier in dem kleinen Beamten Goljadkin gleichsam einem kranken Geist, für den es im Ringen mit einem zweiten Ich letztlich keine Rettung gibt. In seinem Nachwort zum Roman führt der Übersetzer Alexander Nitzberg eine stolze Reihung berühmter Autoren der Romantik an, die sich ebenfalls mit dem Doppelgänger-Motiv befasst haben.
Aber der Rückgriff auf die Romantik wurde von Dostojewskis damaligen kritikern gerade missbilligt. Das Ausufernde seines Stils, die Wortwiederholungen, diese „Symphonie der Redundanz“, wie Nitzberg lobt –, so lange und heftig wurde es dem aufstrebenden Literaten angekreidet, bis dieser selbst Abstand zu seinem Werk gewann. 1866 veröffentlichte er eine neue Fassung, stark gekürzt, enträtselt. Nitzberg: „Die Repetition in den ausufernden Monologen zu mäßigen, bedeutet dem Roman den Pulsschlag zu nehmen, der ihn so lebendig macht.“ Aber die bisherigen sechs Übersetzungen des Romans ins Deutsche beruhten auf dem Text von 1866. Das „Der Doppelgänger“ jetzt in seiner Urfassung erschien, ist quasi eine Premiere.
Ein Psychodrama? Nabelschau eines Irren? Dass Herr Goljadkin an der bürokratischen Hierarchie in einem Maße leidet, dass er ein geheimes unterbewusstes Ich zu Hilfe ruft, könnten wir es nicht verstehen? Auch dass dieser junge, forsche Nebenbuhler für ihn eine Bedrohung wird, ist so phantastisch wie real. Ein Mensch, der sich in seiner Lebenswirklichkeit nicht bescheiden kann, der von den Ansprüchen an die eigene Person gehetzt wird – , Dostojewski war doch selbst so einer.
Wie er darunter litt, wie er sich selber geißelte, weil er nicht so sein konnte, wie er es von sich verlangte. Nicht so gütig, nicht so erfolgreich, zwar aus adliger Familie, aber ständig in prekärer Lage. Von Epilepsie geplagt, von Schulden geplagt und von seiner Spielsucht, die alles nur noch schlimmer machte. Dabei wußte er: Wie er sein wollte und wie nicht, das gehörte leider zusammen. Das Motiv des Doppelgängers wurde prägend für Dostojewskis Werk. Mit diesem grandiosen Roman hat es der Schriftsteller für sich entdeckt.
Fjodor Dostojewski: Der Doppelgänger. Die Abenteuer des Herrn Goljadkin. Die Urfassung in deutscher Erstübersetzung von Alexander Nitzberg. Galiani Berlin, 329 S., geb., 24 €.