Zwischen Oben und Unten
Woher kommt das Böse? Ist Gehorsam eine Hautkrankheit? In ihrem neuen Roman erzählt Elena Ferrante vom Hineinwachsen in „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“
Von Irmtraud Gutschke
Bei Markenprodukten ist das so: Man weiß, was man kauft. Wenn erfolgreiche Autoren plötzlich andere Richtungen einschlagen, ist der künstlerische Ehrgeiz zu loben, doch das Verlagsmarketing wird eher nicht begeistert sein. Die von 2011 und 2014 entstandenen vier Bände der „Neapolitanischen Saga“ (deutsch 2016 bis 2018) haben Elena Ferrante in vielen Ländern Millionenauflagen beschert. Da zog Suhrkamp mit der Veröffentlichung früherer Romane nach und präsentiert jetzt einen neuen, der alles hat, was Leser von der Autorin erwarten.
Wieder ist der Handlungsort Neapel, diesmal allerdings in den Neunzigern. Wieder stehen Heranwachsende im Mittelpunkt, allerdings ist die Handlung auf die Ich-Erzählerin Giovanna konzentriert. Zu Beginn des Romans 13 Jahre alt, fühlt sie sich die ganze Zeit hässlich und verstört. Doch mit 16 fällt ihr ein Satz ins Herz, der womöglich ihr Leben verändern wird. „Du bist sehr schön“ – das sagt der von ihr bewunderte Roberto ausgerechnet in einem Moment, als sie ihm in Mailand mit seiner Verlobten Giuliana im Bett das Frühstück serviert.
Bei Roberto muss man natürlich gleich an Nino denken, der in der „Neapolitanischen Saga“ zwischen Elena und ihrer Freundin Lila steht. Ein hochgebildeter junger Mann, zu dem eine Frau aufschauen und an dem sie auch wachsen kann, der ihr den Zugang zu besseren Kreisen verspricht. Giuliana aus einer armen Familie fürchtet, dabei nicht mithalten zu können und den Herzensfreund irgendwann an eine Studierte zu verlieren. Roberto aber sieht in ihr die Verbindung zu seiner armen Herkunft, die er, auch aus allgemeinem moralischen Anspruch, nie verleugnen will. Ob eine solche Integration gelingt?
Oben und Unten. Elena Ferrante hebt sich aus der Masse von Autoren hervor, die selbstzufrieden lediglich für die Belange der akademischen Mittelklasse stehen. Schon die „Neapolitanischen Saga“, wo Elena und Lila verschiedene Wege suchen, dem „Sumpf“ der Armut zu entkommen, handelte vor dem Hintergrund sozialer Ungerechtigkeit und kultureller Unterschiede. Im neuen Roman nun wird die Frage der Herkunft dialektischer aufgefasst. Dafür sorgt die Gestalt einer starken Frau: Vittoria, Giovannas Tante. Ihr Name „klang bei uns zu Hause wie der eines Monsters, das jeden besudelt und infiziert, der mit ihm in Berührung kommt.“ Doch da schnappt das Mädchen die Bemerkung ihres Vaters auf, dass sie dieser Vittoria immer ähnlicher würde. Er dachte wohl an ihre schulischen Leistungen, sie bezieht es auf ihr Äußeres und will nun unbedingt Vittoria treffen. So macht sie sich auf den Weg von Oben nach Unten – vom Hügel San Giacomo die Capri, wo sie mit ihren Lehrer-Eltern wohnt und wohlhabende Freundinnen hat, in die Zona Industriale, wo sie noch nie war, wo die Treppen kaputte Stufen haben und neapolitanischer Dialekt gesprochen wird.
Auf welche Weise tragen wir unsere Herkunft mit uns, wenn wir uns von ihr lösen? Es ist spannend, wie Giovanna sich auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte mit ihren Geheimnissen begibt, wie widersprüchlich Vittoria reagiert, wie die Gleichaltrigen „unten“ weg wollen von denen, die „nichts können und nichts zählen“. Giovanna aber hat „es satt, den Worten anderer ausgesetzt zu sein. Ich muss wissen, was ich wirklich bin und was für ein Mensch ich werden kann …“ Das allerdings, fügt man in Gedanken hinzu, mit ihrer kultivierten Herkunft im Rücken, die ihr in jeder Situation Sicherheit gibt. Das „lügenhafte Leben der Erwachsenen“ weckt bei ihr starke Gefühle, und es ist faszinierend, wie gekonnt die Autorin uns wie auf einer Achterbahn über Abgründe führt. Ehrgeiz und das Empfinden von Minderwertigkeit, Trotz, Neid, Eifersucht, Machthunger, Begehren, Angst, Ekel – welche moralischen Prämissen gibt es, wenn man ins Hintertreffen gerät? Das Böse, „wo kommt das her … wie kann man es beherrschen“? Was bedeutet Männlichkeit? „Ist Gehorsam eine Hautkrankheit?“Auf den Seiten 298 bis 301 gibt es ein tiefgründiges Gespräch zwischen Roberto und Giovanna über Religion und Dichtung. Und immer wieder taucht ein wertvolles Armband auf. Vittoria hatte es Giovanna zu ihrer Geburt geschenkt, doch die bekam es nie zu Gesicht. Dann sieht sie es am Arm einer Frau aus befreundeter Familie. Es kommt zu ungeahnten Turbulenzen zwischen den Erwachsenen, zu schmerzhaften Verwicklungen, und Giovanna erkennt, dass Entscheidungen in Liebesdingen nicht so einfach sind.
Das verfluchte Armband. Am Ende ist es in Giulianas Besitz, aber sie hat es bei Roberto in Mailand liegen lassen. Die verliebte Giovanna holt es ihr zurück… Und spätestens dann weiß man, dass die Geschichte mit diesem Buch nicht zuende ist. Wie viele Romanfolgen werden es werden?
Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp, 415 S., geb., 24 €.