Die Wut der Zukurzgekommenen
Dostojewskis Roman „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ liest sich überraschend heutig
Von Irmtraud Gutschke
„Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein zorniger Mensch…“ Auch wenn Dostojewski in einer einleitenden Bemerkung meint betonen zu müssen, dass der Ich-Erzähler seines Romans „selbstredend erfunden“ sei, „ein Typus aus jüngst vergangener Zeit“hat er natürlich auch manches von sich in diese Gestalt mit eingeschrieben: die Belesenheit, die Klugheit, die Sprachkraft, seine Krankheit (er litt an Epilepsie), seinen gelegentlichen Selbsthass und das Ressentiment einer Gesellschaft gegenüber, in der er ein Zukurzgekommener war. Kind eines verarmten Adelsgeschlechts mit einem strengen Vater, verlor er früh seine Mutter, durchlief eine strenge Ausbildung in einer Lehranstalt für Militäringenieure, fühlte sich fehl am Platz, begeisterte sich für Gogol und überhaupt für Literatur, quittierte nach dem Examen bald den Dienst, wollte Schriftsteller sein, wollte das brodelnde Leben in St. Petersburg genießen. Aber es fehlten ihm die materiellen Mittel dazu.
Dieses Missverhältnis zwischen Anspruch und Realität begleitete ihn fast sein ganzes Leben. Die Spielsucht war eine Folge und verschärfte die Lage enorm. Sein Selbstbild war gespalten zwischen dem Menschen, der er sein wollte, und dem, den er in sich verachtete. „Porträt eines Zukurzgekommenen“ nennt der Verlag den Roman. Dostojewski habe das „Urbild aller Wutbürger“ geschaffen. Das ist eine werbewirksame Formulierung, und sie stimmt sogar, wenn auch das Ressentiment heute eine viel breitere Basis hat.
Die Übersetzerin Ursula Keller geht in ihrem ausgezeichneten Nachwort auf die ideologischen Debatten jener Zeit ein, insbesondere auf Tschernyschewskis sozialutopischen Roman „Was tun“, mit dem sich Dostojewski untergründig auseinandersetzt. Der verbreiteten Lesart, dass er nicht an eine Erneuerung des Menschen und der Menschheit glaubte, fügt sie die Gründe dessen hinzu: „Die menschliche Natur sei nicht rational, der freie Wille des Menschen nicht vernünftig“. Das aber kam wohl auch aus des Autors eigener Erfahrung. Aus der Zwiespältigkeit seiner Existenz, die ihn quälte, hat er immer wieder nach einem Ausweg gesucht. Die in ihm wachsende Überzeugung, dass der bürgerliche Individualismus keine Alternative ist zum zaristischen System kam aus seiner persönlichen Erfahrung. Vor dem Hintergrund mehrerer vorliegender Ausgaben hat Ursula Keller eine Neuübersetzung vorgelegt, die nicht „glättend“ oder „klärend“ sein sollte, sondern die Eigenheiten der mündlichen Rede des ich-Erzählers möglichst originalgetreu wiedergibt.
Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Roman. Aus dem Russischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem nachwort von Ursula Keller. Manesse Verlag, 306 S., geb., 25 €.