Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Dora Kaprálová: Winterbuch der Liebe

„Wir sind Sklaven unserer Sehnsucht“

Männer mit Frauenaugen gesehen: „Winterbuch der Liebe“ von Dora Kaprálová

„Es gibt einen Mann.“ So fangen fast alle der über siebzig Miniaturen an. Oft folgt dann: „Ich liebe ihn.“  Einen Winter lang hat Dora Kaprálová jeden Tag eine kleine Geschichte geschrieben. Das war, als Péter Esterházy noch lebte. Den freundliche Satz, mit dem sich der ungarische Schriftsteller 2014 für ihr Buch bedankte, hat der Mikrotext Verlag nun werbend mit abgedruckt. Die Zueignung der Autorin lesen wir auf der ersten Seite: „In Liebe P.E. gewidmet, dessen Buch Eine Frau ich nie zu Ende gelesen habe“ – fürwahr, Dora Kaprálová gibt einem Rätsel auf.  Und jeder dieser kleinen Texte funkelt wie ein Edelstein, der noch etwas Geheimnisvolles birgt.

Da sind auf nur wenigen Seiten, manchmal sind es nur Sätze, ganze Romane verdichtet über das Leben in unserer Zeit. Kunststückchen, die man sich genussvoll einverleiben kann, um immer wieder zu staunen, wie das darin Verdichtete auf eigene Erfahrung trifft. Männer, mit Frauenaugen gesehen: „alt wie Methusalem“ und eine Kinderliebe, der Kubaner Miguel Cervesa und der Starkoch Jamie Oliver, ein Berliner Metzger, ein ungarischer Tänzer, ein Müllmann, ein Schauspieler aus Brünn, der Jesus spielt, ein Junge aus Arizona, viel zu jung für die Liebe, ein Italiener im Kostümverleih, der eigentlich eine Frau ist … Es kann „pikant, ja sehr pikant“ sein und bald schon wieder ernüchternd öde. Begegnungen in der Realität oder in der Phantasie. Tanz der Geschlechter, der für frühere Generationen viel einfacher einzuüben war als heute, auch wenn es damals nicht unbedingt erbaulich war.

Und auch der eigenen Mann erhält seine Rolle zwischen Liebe und Hass. Unterschwellig könnte es sogar der Roman einer schwierigen Ehe sein, wenn unterschiedliche Charaktere und Erwartungen aufeinandertreffen. Althergebrachte Rollen scheinen sich vertauscht zu haben. Ein Mann, dem die Sauberkeit im Haus höchstes Gebot ist? Gut, wenn er sich selbst drum kümmern würde. „Ich werde nicht tun, als sei ich eine Hausfrau.“ Eine Frau, die ihn anders will, als er ist. „Es gibt einen Mann. Er liebt mich lauwarm, ich liebe ihn nachgiebig.“

Und ihm gegenübergestellt sind die anderen Typen. Scharf beobachtend, oft sarkastisch ironisch auch gegenüber sich selbst, entsteht da ein Reigen des Männlichen,. (Ich dachte an Arthur Schnitzler, aber so frivol geht es nicht zu.) Die Autorin weiß wohl: In „Gender“-Zeiten das Männliche dermaßen in den Mittelpunkt zu stellen, wirft Fragen auf. Wie sie in Berlin einen „Aufmarsch überaltert aparter veganer“ beobachtet, „militanter Haferfresser, maskuliner Unsicherheiten, femininer Leere, die siebte Hippie-Generation mit Kreditkarten in den Taschen“, ist sie ganz ruhig. „mit beiden Beinen fest auf dem Boden“. Eine Feministin durch und durch, aber eine, die nicht mehr um ihre Rechte kämpfen, ihre Position nicht verteidigen muss, die keine Perle aus ihrer Krone verlieren und deshalb auch Nachsicht üben kann. Und die sich zu wilder Weiblichkeit bekennt: „Wir sind Sklaven unserer Sehnsucht.“

Wie witzig da viele Texte sind. Zum Beispiel über einen Literaten „aus den wilden postkommunistischen, kapitalistischen 1990er Jahren … er hat sich hier und dort eingeführt, und so hat er mich hierhergeführt, in eine Pension aus den 1990er Jahren …“ Wie da ein ganzer Gesellschaftsroman in diesen Miniaturen steckt! 1975 in Brünn geboren, lebt Dora Kaprálová seit 2007 in Berlin. Eine Stadt voller einsamer Langläufer? „Wir alle sind doch letztlich nichts weiter als gegenseitige ästhetische Requisiten.“ Etwas lebenswichtiges scheint verloren gegangen: „Das Strahlen eines außergewöhnlichen Gefühls.“

Würde sie zustimmen, dass dies auch ein Buch über die Einsamkeit ist, die man sich mit Geschichten versüßen kann? Geschichten von Männern und Frauen. „Weil die Lieb. Ein Gebet ist …“

Dora Kaprálová: Winterbuch der Liebe. Aus dem Tschechischen von Nataša von Kopp. Mikrotext Verlag, 117 S., geb., 20 €.

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