„Für alle Frauen, die überlebt haben“
Der neue, preisgekrönte Roman von Donatella Di Pietrantonio umkreist ein dunkles Geheimnis
Irmtraud Gutschke
„In letzter Zeit ist mein Schlaf weniger leicht, ich höre sie nicht mehr im Haus herumgehen. Nur manchmal, wenn ich mich auf die Seite drehe, vibriert bei ihren späten Schritten sogar der Fußboden meines Zimmers.“ – Ganz unerwartet ist Amanda während des Corona-Sommers zur Mutter ins Dorf zurückgekehrt. Wollte sie nicht in Mailand studieren? Warum lernt sie nicht zuhause? Wie lange wird sie schlafen? Wird sie diesmal wenigstens was essen? Macht Fürsorge vielleicht alles noch schlimmer? „Heute bin ich bei Opa, schreibe ich ihr auf ein Blatt. Ich leg es neben die Vase mit den gelben Tulpen. Male noch ein Herz für sie dazu, das ich gleich wieder ausradiere.“
Diese Unsicherheit, weil die erwachsene Tochter sich gegen alles abschottet, weil sie immer dünner wird. Allein schon, wie Lucia (erst auf Seite 70 erfährt man ihren Namen) als Ich-Erzählerin ihre Sorgen offenbart, dürfte bei vielen Leserinnen Widerhall finden. Das Flügge-Werden der Kinder als Schmerz der Eltern, umso schwieriger für eine Frau, die von ihrem Mann getrennt ist und deren geplagte Mutter in die Demenz abglitt, als wollte sie sich mal ausruhen vor dem Tod. Schon in ihrem preisgekrönten Debütroman „Meine Mutter ist ein Fluss“ (2011) hat Donatella Di Pietrantonio davon erzählt.
„Die zerbrechliche Zeit“ ist ihr fünfter Roman, den Maja Pflug ins Deutsche gebracht hat. Viele Motive dürften der Übersetzerin aus früheren Büchern bekannt gewesen sein: ein Dorf in den Abruzzen, wo Frauen in harter Arbeit ihre Familien ernähren müssen als „Sklaven der Notwendigkeit“, schwierige Mutter-Tochter-Verhältnisse, die psychologisch feinsinnig ausgeleuchtet werden. In ihrem jüngsten Buch, das 2024 den Premio Strega und den Premio Strega Giovani erhielt, kommt indes ein Gewaltverbrechen hinzu, das sich so ähnlich tatsächlich zugetragen hat und sich erst zum Schluss ganz enthüllt. Das gibt dem Text von Anfang an etwas Gespenstisches, Bedrohliches. Auf geschickte Weise zieht uns die Autorin in einen großen Spannungsbogen. Atemlos liest man, während sich das eigentümliche Beziehungsgeflecht im Dorf entwirrt.
Kein Dolce Vita-Paradies. Die Autorin führt uns in jene ländliche Gegend in Norditalien, wo sie selber aufgewachsen ist. Vieles mag autobiografisch grundiert sein. Sie wurde Kinderzahnärztin. Lucia hätte gern Medizin studiert, aber das konnten sich die Eltern nicht leisten. Wenigstens ließ sie sich zur Physiotherapeutin ausbilden. Vorher war sie eine ausgelassene Halbwüchsige gewesen. „Wir wollten jung sein“ – damit war es nach „der Sache“ dann abrupt vorbei. Am liebsten würde sie sich nicht mehr daran erinnern.
Aber der Vater besitzt ein Grundstück am „Dente del Lupo“, jenem Felssporn, der einem „Wolfszahn“ ähnelt. Das soll nun Lucia gehören. Amanda will es sehen und interessiert sich auch für den Campingplatz dort, den die Mutter eigentlich nie wieder betreten will. „Wie grün diese Wiesen sind. Aber darunter wimmelt es von Würmern, die Erde ist faulig.“ Das hatte Lucias Freundin Doralice gesagt, an deren Verschwinden damals sie sich schuldig fühlte. Doralice hat überlebt, aber nichts war mehr wie zuvor …
Allein aus dieser Freundinnengeschichte und den mehrfachen weiblichen Gewalterfahrungen hätte sich ein stringenter Plot stricken lassen. Doch im Gedanken an die bedrohte Natur ihrer Heimat öffnet die Autorin eine zweite Handlungslinie. Ein reicher Hotelier bietet Lucia 60 000 Euro. „Die ganzen Jahre habt ihr den Campingplatz verkommen lassen, und jetzt plant ihr, ihn mit Beton zuzuklotzen?“, erregt sich Amanda. „Der Großvater hat dir das Grundstück überschrieben, Mama. Du musst es jetzt schützen.“ Bei einer Protestaktion der Schäfer lebt sie wieder auf. Noch weiß sie nichts von dem, was ihrer Mutter einst widerfuhr. Aber die beginnt nun, die Tochter besser zu verstehen.
Der Mutter wird bewusst: Sie hätte sofort zu Amanda fahren müssen, nachdem sie eines Nachts in Mailand überfallen worden war, doch war sie wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt. „Bevor sie ihr die Handtasche wegrissen, haben sie ihr mit aller Kraft aufs Ohr geschlagen.“ Von hinten war sie überfallen worden auf dunkler Straße. Sie erkannte die Männer nicht, meinte nur, dass sie zu dritt gewesen waren. „Ihr war schwindlig im Kopf und ein durchdringendes Pfeifen machte sie benommen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an einen am Gehsteig geparkten SUV und rutschte daran hinunter. Später, von einer unbekannten Nummer aus, konnte sie mir nicht sagen, wie lange sie dort weinend im Staub gesessen hatte. Von ihrem Ohrläppchen tropfte das Blut, ihr Ohrring hatte sie verletzt.“
Versehrte Frauen: Auch wenn sie ein „normales Leben“ zu führen scheinen, haben sie mit Verletzungen zu kämpfen, die wir beim Lesen erspüren sollen. Verletzungen, an denen Männer die Schuldigen sind, die kaum zur Verantwortung gezogen werden. „Für alle Frauen, die überlebt haben“: So lautet das Motto des Romans, der spannend, düster, beklemmend – und dabei voller Mutterliebe ist.
Donatella Di Pietrantonio: Die zerbrechliche Zeit. Roman. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Verlag Antje Kunstmann, 224 S., geb., 22 €.