Worte für das Unsagbare
„Ins Innere hinaus“ – Christian Lehnert ergründet Dichtung und Theologie
Von Irmtraud Gutschke
„Da ist etwas“ – es ist nur ein Gefühl, eine vage Ahnung, der man glauben mag oder nicht. Sie kann einen überall befallen, wenn man in einem Augenblick der Stille in sich hinein lauscht, vielleicht ein sanftes Rauschen vernimmt, das nichts mit einem Tinnitus zu tun hat. Eine Empfindung von Schweben, von entspanntem Erhobensein. In Hektik ist das nicht zu haben, und mancher kennt es vielleicht gar nicht. Aber wem es zuteilwird, dem ist es ein Geschenk.
Christian Lehnert, 1969 in Dresden geboren, studierter evangelischer Theologe, Kenner auch jüdischer und muslimischer Religion, ist ein ganz Besonderer unter den deutschen Dichtern. Auch in früheren Bücher wie „Aufkommender Atem“, „Windzüge“, „Cherubinischer Staub“ hat er Worte für etwas eigentlich Unsagbares gesucht, das nicht in ein streng rationales Weltbild einzusortieren ist. Weil ihm dieses nicht genügt. Denn es schottet den Menschen ab, heftet ihn an festen Boden. Die Sehnsucht nach Flug bleibt ungestillt.
„Ins Innere hinaus“ ist eine Sammlung von Prosaminiaturen, in denen beim Lesen eigenes Empfinden Widerhall finden kann – in einem Staunen, dass es beschreibbar ist, beschrieben wird von diesem Dichter. Das kann nur auf höchst subjektive Weise geschehen, im ungeschützten Ich-Sagen, das in dieser entzauberten Welt auch ein Wagnis ist. Es kann zurückgewiesen werden, ist angewiesen auf Unbeirrbarkeit.
„Der Mensch ist nicht nur ein Lebewesen mit Vernunft, wie Luther in traditionell aristotelischer Weise formuliert, er ist zugleich nicht ganz in der Gegenwart und in den Fakten, in den Analysen und im Machbaren zu Hause; seine Fühler streckt er ins Imaginäre, in ein Dichten und Bilden und Schauen des noch nie Gesehenen, des Undenkbaren …“ In diesem Sinne könnten die Menschen der Vormoderne, „so wie sich auch die Wahrnehmungsräume von Kindern und Erwachsenen nicht decken, auf anderen Frequenzen sensibel gewesen sein“. Oder an anderer Stelle: „Der globale
Kapitalismus wird vielleicht durch nichts schärfer in Frage gestellt als durch geistliches Leben und Denken. Denn Herrschaft wird heute allerorts legitimiert und durchgesetzt im Raum einer bestimmten Vorstellung vom Menschen, die ähnlich einzementiert ist in die Mitte der Gesellschaft wie einst die Dogmen in Zeiten der Inquisition. Man könnte sie eine abgeschlossene Diesseitigkeit nennen. Liberalität und Autonomie sind darin zu letzten Werten erhöht. Der freie Einzelne … wird als Konsument wie als Patient, als Wähler und Käufer und Funktionsträger auf sich zurückgeworfen und in seiner Verkapselung verwaltet, zu Effizienz erzogen oder in postfaktische Wirklichkeiten medial eingehüllt wie in Watte.“
Auf jeder Seite findet sich in diesem Buch Zitierwürdiges: Über Religion, über Esoterik, über die Kabbala, das menschliche Bewusstsein, ja auch über „Engel und Mächte“, die im Untertitel beschworen werden. „Von der Transzendenz her, von der verstörenden Kraft einer Offenbarung (oder zumindest der Sehnsucht danach) könnten die stärksten Energien kommen, die dem
Taumel von Wohlstand und materieller Beglückung, dem Opium quasireligiöser Diesseitigkeit und zerstörerischen Allmachtsträumen trotzten und zum Erwachen führten aus der Betäubung, erweckt durch einen unbedingten Anspruch. Wer ist der andere in mir?“
Christian Lehnert: Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächte. Suhrkamp, 234 S., geb., 22 €.