Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Christian Lehnert: Das Haus und das Lamm

Glauben, Zweifel, Sprache

„Das Haus und das Lamm“ von Christian Lehnert

Irmtraud Gutschke

Er ist mit sich allein im Wald – allerdings so ganz auch wieder nicht. Das Haus, an dem er werkelt, ist zugig, „Ununterbrochen bin ich am Abdichten, bastele und ersetze.“ Provisorisch mutet diese Wohnstatt an. Oder ist sie ein Abbild unserer Welt?

Der Genuss bei der Lektüre dieses Buches kommt aus dem Hintersinn. Dem Fragenden, Wägenden – dem Staunen vor allen Dingen. Staunen angesichts der Schöpfung. Dieses große Wort ist hier am Platz, weil Christian Lehnert sich stets eines Größeren bewusst ist. Deshalb ist er eben nicht wirklich allein im Wald. Er ist umgeben von einer Resonanz, befindet sich in einem Hallraum. Weiß er eigentlich, was für ein großes Glück er damit hat?

„In den Prophetenbüchern und im Neuen Testament steht die ganze Menschheitsgeschichte immer wieder und fortwährend gefährlich auf der Kippe.“ „En hemera kriseos“ heißt „am Tag des Gerichts“. Nicht von ungefähr also kreisen die Gedanken des Dichters um  die “Apokalypse des Johannes“, die immer wieder von Theologen und Historikern interpretiert worden ist. Der Dichter stellt sich diesen Johannes vor, lauscht dem energetischen Sog der Sätze nach, ruft Thomas Müntzer an, „Gaia“, die Erdmutter … Und er wagt seine eigene Deutung: „Johannes ist ein frühchristlicher Dichter, der sich weit hinauswagt aus konventionellen Ausruckformen, als hätte er nichts mehr zu verlieren.“

Aber das macht ihn nicht klein. „Ich schaue mit Johannes auf einen kranken Weltkörper, sehe das Böse, wie es sich verwirklicht – in Schreckensbildern, die dem Bösen selbst gelten … Die Apokalypse in ihren Untergangsszenarien ist eine beklemmende Entbergung, kein Handeln Gottes.“


Sprachkunst im Spannungsfeld von Geist und Tun. Kabbala, Bibel und die Arbeit am Haus. „Tröster waren die Wildkräuter“ Hat er tatsächlich mehrere Wochen nur von Samen und Kräutern gelebt? Giersch, Vogelmiere, Löwenzahn „Nicht Gedankensysteme und Mythen bilden den Leib der Religion, sondern das Schrittmaß ins Unbekannte, die schutzlos ausgesetzte innere Bewegung.“

Wie ich die Lektüre genieße! Und wie ich demütig bekennen muss, mit meinem Text dem Buch nicht gerecht zu werden. So ist es ja überhaupt mit der sogenannten „Buchkritik“. Aber in Bezug auf Christian Lehnert ist mein Gefühl von Ungenügen besonders stark. Mich zieht das Spirituelle bei ihm an. Ich kann seine Definition von Mystik nachvollziehen: „eine höchste Steigerung des Eigenen über sich hinaus…, maßloses Dasein,…intensiviertes Leben“. Ich verbeuge mich vor seiner Sprachkunst, die einem Benennen dessen zustrebt, das kaum benennbar ist. Und ich kann ihn sehen, wie er einen Psalm betet, „leeres Licht“ vor Augen, dessen Gewalt ihn trifft. Visionen, Träume, Erinnerungen, Fragen… „Im Atem erscheint die transzendentale Offenheit allen Lebens.“

Vielleicht ist dieses Buch ein Weg, den man nicht bewältigt, sondern den man immer wieder gehen wird. „Ich vertraute in irgendeinem unverwüstlichen Sinne. Wem? Einem, der aussteht, nicht da ist.“

Christian Lehnert: Das Haus und das Lamm. Fliegende Blätter zur Apokalypse des Johannes. Suhrkamp, 268 S., geb., 26 €.

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