„Aber so ist das eben“
Von Irmtraud>Gutschke
Zwei Frauen sitzen einander gegenüber: Die Ältere lächelt die Jüngere an, und zwischen ihnen träumt ein Hund. Auf der nächsten Seite aber sitzt eine andere Frau im Speisesaal und es könnte sein, dass sie einen Schlaganfall hinter sich hat. Einzelzimmer gehen ab von einem langen Flur, an den Wänden Geländer. Es ist ja gut, dass man sich festhalten kann, wenn einem schwindlig wird. Aber dieses Schwindlig-Werden ist hier eben schon eingeplant. Sieht sie so aus, die „letzte Station“?
Wer in dieses „Haus mit vielen Fenstern“ einzieht – oft wohl nicht ganz auf eigenen Wunsch – hat sich damit abgefunden. Frau Neumann sitzt in ihrem Fenster und schaut auf die Grünpflanze. „Ich war zufrieden mit meinem Leben“, sagt sie, „mir hat nichts gefehlt.“ Dabei, gibt sie zu, hat sie noch nie jemanden geküsst. Manche der Frauen und Männer erzählen der Künstlerin ihre Lebensgeschichten, der Krieg, den sie, 1972 geboren, nicht erleben musste hat drin einen bedeutenden Platz. Frau Wolf weiß noch genau, wie sie ihren Mann kennenlernte, der zwei Jahre vor ihrer Silberhochzeit starb. „War ich verheiratet?“, fragt sich Frau König. „Ja, ich glaube. Aber wann habe ich geheiratet? Frau Schneider erzählt, wie Fliegeralarm war und sie ihre Tochter zusammen mit ihrer Mutter zur Sammelstelle schickte und sie dann beide nie mehr wiedersah.
Das trifft einen ins Herz, aber noch mehr trifft es einen, wie Frau Reiter um Geld für den Bus bittet, weil ihr Sohn zu Hause auf sie wartet. Sie muss doch Essen machen. Die meisten kamen plötzlich ins Heim. Andere waren überzeugt, dass es besser für sie war, und sie mussten sich fügen. Konnten doch nicht allein zu Hause bleiben, brauchten doch Pflege… Das Schicksal, das uns allen blüht?
Dass jemand sie nach ihrem Leben fragt und ihnen sogar aufmalt, wie es zu Hause aussah, damit sie sich weiter daran erinnern, das geht nicht im Pflegebetrieb. Charlotte Müller hat diese so verschiedenen Leben in Bilder gebracht. Zusammen mit der Buchgestalterin Christiane Dunkel-Koberg bringt sie dabei gern Details zum Sprechen. Fotografien, Bücher, Wasserflaschen… „Immer trinken, trinken, trinken trinken. Ich hab schon als Kind nichts getrunken und bin 96 Jahre alt geworden… Vielleicht geh ich bald nach Hause …“ Doch diese Freiheit fehlt.
Die Künstlerin sich Zeit genommen, hat zugehört. Sie war eine Seelsorgerin und erwärmt auch jenen, die ihr Buch zur Hand nehmen die Seelen. Aber sie konfrontiert uns auch mit Trauer. Und diese existenzielle Traur ist der Grund, warum sie auch dem Buchmarkt mit diesem Band eine Sonderstellung hat. Denn andere Autorinnen und Autoren wagen sich nicht an den Ort, über den sie schreibt. Ob es nicht besser etwas Heitres wäre, mögen Marketingleute fragen. Insofern ist dies ein kühnes Buch – für die Autorin ebenso wie für den Verlag. – „Was sagten Sie, in was für einem Heim bin ich hier? … Dann werden sie mich wohl hier behalten, so lange ich lebe.“
Charlotte Müller: Ein Haus mit vielen Fenstern. Gesammelte Lebensgeschichten. Kunstanstifter Verlag. 80 S., geb., 24 €.