Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Carolin Würfel: Zuhause ist das Wetter unzuverlässig

Frauen im ewigen Dilemma

„Zuhause ist das Wetter unzuverlässig“: Der Roman von Carolin Würfel hat es in sich

Irmtraud Gutschke

Erzählen kann sie so, dass man vor sich sieht, was geschieht. Das hat Carolin Würfel schon mit ihrem hochgelobten Sachbuch „Drei Frauen träumten vom Sozialismus“ über Maxie Wander, Brigitte Reimann und Christa Wolf bewiesen. Und nun ihr erster Roman. In welchem Maße ist er fiktiv oder doch autobiographisch gefärbt? Es lag wohl an mir, dass ich zu sehr das Autobiografische suchte und  die Autorin zu stark mit ihrer Ich-Erzählerin in Verbindung brachte. „Zuhause ist das Wetter unzuverlässig“: Carolin Würfel hat Istanbul als ihren zeitweisen Wohn- und Arbeitsort gewählt. Und die junge Frau, deren Tagebuch wir hier lesen, ist aus Deutschland in eine Stadt am Meer gereist, als ob sie sich eine letzte Lebensfrist geben würde …

Dieser erste Roman von Carolin Würfel hat es in sich. Er will ganz neu, ohne vorherige Erwartungen, gelesen werden. Motive aus ihrer Familiengeschichte könnten durchaus verarbeitet sein. Niemandem ist es verwehrt, danach zu suchen. Auf Anfrage bestätigte die Autorin, dass dem Roman auch eine historische Recherche zugrunde lag. Vor allem ging es ihr dabei „um Familienmuster, die in der deutschen Geschichte wohl viele Familien erlebt haben, vor allem Frauen“.

In zwei Handlungsebenen bewegt sich der Roman. Die Tagebuchaufzeichnungen der Ich-Erzählerin werden immer wieder unterbrochen durch Erlebnisse von Frauen, die vor ihr gelebt haben und die irgendwie auch entfernte Vorfahren gewesen sein könnten. Das sind bewegende Lebensgeschichten, in denen Männer nur insofern eine Rolle spielen, als sie letztlich den Freiheitsdrang der Frauen bremsten. Und sei es dadurch, dass sie mit ihnen Kinder zeugten.

„Ein Kind ist das Ende aller Freiheit“, schreibt die namenlose Ich-Erzählerin in ihr Tagebuch. „Ein Kind ist ein Kampf, und Muttersein heißt, ständig Krieg führen zu müssen. Nicht gegen das Kind, das manchmal auch, aber vor allem gegen sich selbst: die liebende Mutter gegen die freiheitssuchende Frau. Aus einer Person werden zwei, die ein Leben lang miteinander kämpfen.“

In dieser kurzen Textpassage auf Seite 33 sehe ich den Dreh- und Angelpunkt des Romans. Die Illusionslosigkeit berührt und dürfte den Nerv vor allem junger Leserinnen treffen, denen eingeredet wurde, sie könnten alles werden, wenn sie sich nur richtig bemühten. Wenn sie dann aber meinen, dass zu einem erfüllten Leben auch Nachwuchs gehören würde, trifft sie die Realität so hart, wie sie es nicht vermuteten. Dass mit der Entscheidung für ein Kind ein Zurückstecken verbunden sein würde, was eigene Lebensziele betrifft, wird ihnen nun in solcher Deutlichkeit klar, dass es ihnen vorkommt, als seien sie früher belogen worden. Wurden sie nicht, aber das Problem wurde irgendwie unter den Teppich gekehrt. Carolin Würfel holt es von dort hervor und stellt es entschieden vor uns hin.

Selbstverwirklichung als Mensch und die Bestimmung als Mutter: Irgendwie versuchen alle Frauengestalten im Roman, mit dieser Zerrissenheit zu leben. Den Konflikt aufzulösen, haben sie keine Chance. Und auch die Entscheidung der Ich-Erzählerin, niemals Mutter zu werden, hat ihre Tücken.

Neugierig sei sie gewesen auf historische Zusammenhänge im 20. Jahrhundert, hat Carolin Würfel mir gegenüber bekannt, „welche Muster in Familien stecken – vor allem in den Frauen einer Familie – wie diese über Generationen weitergetragen werden und welchen Druck sie auslösen.“ Aber es sind ja nicht nur gesellschaftliche Verhaltensmuster, die durch emanzipatorische Bestrebungen bis zu einem gewissen Grade verändert werden können, überlege ich. Männer können keine Kinder gebären. Frauen haben heute immerhin die Möglichkeit der Entscheidung. Aber diese Freiheit kann sie auch ins Dilemma stürzen, weil mit Gewinn auch Verlust verbunden ist.

Carolin Würfel: Zuhause ist das Wetter unzuverlässig. Roman. Hanser Berlin, 213 S., geb., 23 €.

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