Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Brigitte Reimann: Katja

„Ich lasse mich nicht zwingen“

Katja“: Bisher ungedruckte Erzählungen von Brigitte Reimann

Irmtraud Gutschke

Texte voller jugendlicher Energie – sie befeuern die Funken, die in einem sind. Sollte man, gerade wenn es sich um eine populäre Autorin handelt, alles veröffentlichen, was sich in Archiven findet? Carsten Gansel, der Herausgeber dieses Bandes, stellt sich eine generell berechtigte Frage. Die Lektüre lässt erleben: Was wir hier von bisher Ungedrucktem zu lesen bekommen, ist nichts verlegen Nachgereichtes, sondern geradezu essenziell, was das Werk von Brigitte Reimann betrifft. Und selbst das, was noch literarische Fingerübung war, beeindruckt durch den Mut, sich zu offenbaren.

Aufmüpfigkeit von Kindheit an. „Du sollst nicht aus der Reihe tanzen!“, lautet das oberste Gebot in der kleinen Stadt, wo Karla und Jonas zur Schule gehen, sie in die elfte Klasse, er in die zwölfte. Sie sind in dem Alter, in dem man sich verliebt – und die Eltern sich deshalb Sorgen machen. Schlimm aber ist, dass es dabei nicht wirklich um die Tochter geht. „Du bringst dich und mich in schlechten Ruf, wenn ihr ewig zusammensteckt“, schimpft die Mutter, „die ganze Stadt redet schon darüber …“ Katja wird geohrfeigt, als sie widerspricht. Sie soll auf eine Heimoberschule gehen, also von Jonas getrennt werden. Und dann geschieht das denkbar Schlimmste …

Es ist das Jahr 1952. Dass Brigitte Reimann selber in der Oberschule in Burgk unsterblich in einen Jungen verliebt war, konnten viele wissen. Wie weit ihr Konflikt ging, durfte niemand erfahren. „Wollen Sie mich ins Zuchthaus bringen?“, fragt der Arzt der Familie im Text.

„Sie selbst war vor dem Abitur schwanger“, schreibt Carsten Gansel im Nachwort. „Die Umstände, die zum Schwangerschaftsabbruch führten, sind unklar.“ Ab 1945 hatten die Länder der SBZ zwar Regelungen erlassen, die einen Schwangerschaftsabbruch ermöglichten, nach der Gründung der DDR aber war per Gesetz ein Abbruch nur noch aus medizinischen Gründen erlaubt. Erst ab März 1972 gab es die sogenannte Fristenlösung. Erst 1993 wurde sie  deutschlandweit übernommen.

Die Erzählung „Reifeprüfung“ war damals ein Tabubruch. Weitere sollten folgen.  „Ich lasse mich nicht zwingen“ – dieser Satz aus der Erzählung „Ich werde in dieser Nacht allein sein“ (1956) trifft generell auf Leben und Werk der Autorin zu. Der Text handelt von einer Dreiecksbeziehung, was ebenfalls einen autobiografischen Hintergrund hat. Der Bildhauerin Maria gelingt es leicht, sich daraus zu lösen. „Ich habe sieben Leben, ich werde an diesem Abschied nicht sterben.“

„Die Art und Weise, wie hier Mitte der 1950er Jahre souverän von weiblicher Lust erzählt wird, ist einzigartig in der DDR-Literatur und bleibt Jahrzehnte unerreicht“, meint Carsten Gansel.  Überhaupt habe diese Schriftstellerin Fragen nach Gleichberechtigung und Emanzipation gestellt – „auch wenn dieses Wort nicht fällt – so früh wie wohl keine andere in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, mit Ausnahme der um sieben Jahre älteren Ingeborg Bachmann“. Früh habe sie sich „das Formarsenal der literarischen Moderne“ erschlossen „und folglich über literarische Techniken verfügt, um in kleinste Verästelungen der menschlichen Psyche vorzudringen.“

Ein Glücksfall war dabei auch, wie damals der persönliche Lebensplan einer jungen Frau mit gesellschaftlicher Aufbruchstimmung zusammenfiel. Was bedeutete, Ich-Verwirklichung von Frauen als Emanzipation auch der Männer zu begreifen. Einer möge für andere eintreten, aber über allem müsse das Wohl der Allgemeinheit stehen, wird im Laienspiel „Die Probe“ (1948) betont,   in dem es um das Verhältnis von Jungen und Mädchen in der Schule geht. „Wir leben nicht für uns allein, sondern wir leben für alle!“ Das klingt in dem Moment noch pathetisch, plakativ, aber dahinter steht ein Ideal, das man heute schmerzlich vermisst.

Gesellschaftliche Utopie, verbunden mit persönlicher Sehnsucht nach einem sinnerfüllten, glücklichen Leben: Unter den neun bisher unbekannten Texten lässt „Bilder der halben Nacht“ von 1961 schon an den Roman „Franziska Linkerhand“ denken: Alltagszenen in einer „Stadt aus dem Baukasten, mit linealgeraden Straßen und struppigen, kleinen Bäumen“, wo sich am Weihnachtsabend Einsamkeit breit macht.

Literarischer Höhepunkt des Bandes ist dann „Sonntag, den … Briefe aus einer Stadt“.  Dieses Filmfeuilleton entstand 1969/70, als die Autorin die ersten Krebsoperationen und eine bittere Trennung hinter sich hatte. Die Entdeckung des verschollen geglaubten Werkes durch Carsten Gansel ist eine Geschichte für sich. Die Fotos im Band sind dem Film entnommen. Es ist eine poetische Hommage an die alte, neue Stadt Neubrandenburg – und damit wohl überhaupt an das verschwundene Land DDR. Dass sie drei Jahre später nicht mehr leben würde, ahnte Brigitte Reimann nicht, doch spürbar ist hier schon ein leiser, melancholischer Ton. Sie blickt zu erleuchteten Fenstern auf und stellt sich Hände vor, „die Brot schneiden und Teller auf dem Tisch rücken. Eine Stirn über Bücher gebeugt, ein Lächeln vorm Spiegel. Ein Gespräch über die Kinder, über die Arbeit, über Geld und Haushalt, Studium, Ferien oder das Fernsehprogramm …“ Ob ihr  Lebensentwurf auch hätte genügsamer ausfallen können, hat sie das an dieser Stelle gedacht?

Aber wenn überhaupt, war es nur für einen Moment. Diese Frau hat für die Liebe gelebt, aber in erster Linie wohl für ihre Arbeit. „Wenn ich zwei, drei gute Bücher schreibe, ist mein Privatleben dagegen einen Pfifferling wert“, heißt es in ihrem Tagebuch.

Brigitte Reimann: Katja. Erzählungen über Frauen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau Verlag, 235 S. m. Abb., geb., 22 €.

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