Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Blitz aus heiterm Himmel

Im Clinch mit dem „uralten Patriarchat“

„Blitz aus heiterm Himmel“: Das Experiment Geschlechtertausch in der DDR

Irmtraud Gutschke

„Da lag sie, Katharina Sprengel, fünfundzwanzig Jahre alt, in ihrem Nachthemd, in ihrem Bett, hatte drei Tage lang geschlafen, und ihr Körper wies die männlichen Merkmale auf.“ Die schienen ihr  „ganz gut geraten“. Doch wie würde es weitergehen? Mit der Titelgeschichte zu diesem Band hat sich Sarah Kirsch auch selber einen Spaß gegönnt, ebenso wie die anderen sieben Autorinnen und Autoren, die an diesem für die DDR-Literatur ungewöhnlichen Experiment teilgenommen haben.

Die Idee war Edith Anderson am 17. Juni 1970 gekommen, als der Maler und Schriftsteller Gotthold Gloger seinen 46. Geburtstag feierte. „Es war schön, auf der bröckelnden Terrasse einer ‚sturmfreien Bude‘ zu sitzen“, erinnerte sie sich in einem Vortrag zum Band. Unter den Gästen war damals auch Peter Hacks gewesen, der 1955 aus der BRD in die DDR übergesiedelt war und auch sonst ungewöhnliche Wege ging. „Wenn das mein Grundstück wäre, würde ich es wie Versailles gestalten“, sagte er und erzählte von dem Stück „Omphale“, an dem er gerade schrieb. Es geht darin um eine Königin, die Herakles heiratet, aber sie will die Rollen tauschen.

Auf der Rückfahrt im Auto erzählte sie dem Cheflektor des Aufbau-Verlages davon. Warum er nicht gleich hellauf begeistert war? Einfach, weil er in seiner Männerseele erschauderte – so wie übrigens mehrere Schriftsteller, bei denen Edith Anderson anfragte. „O verflucht! O verflucht! Ein ganz erschreckender Traum,“ platzte Hermann Kant heraus. „Eine Frau! Das ist ja schlimmer als Kafka! Viel, viel schlimmer, als zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt zu erwachen!“ – Franz Fühmann entschuldigte sich später für diese Worte.

Es war ein schwieriger Weg zu dieser Anthologie, die 1975 bei Hinstorff veröffentlicht, bald vergriffen war und erst heute wieder aufgelegt worden ist. In seinem fundierten Nachwort, das den Band in den Kontext der DDR-Literatur stellt, zitiert Carsten Gansel die Herausgeberin: Damals habe es noch „wenig Bewusstsein für die Frauenbewegung“ gegeben. „Frauen in der DDR“ würden „zwar Rechte und Vorteile genießen, um die Frauen in Westdeutschland und den Vereinigten Staaten sie womöglich beneiden“, doch sei ihnen dies „als Bestandteil des Sozialismus“ zuteil geworden, „ohne dass sie jemals dafür kämpfen mussten“. Nun, in den Familien gab es auf jeden Fall diesen Kampf, und das mühsam errungene Selbstbewusstsein der Mütter ging auf die Töchter über. Aber die Feministin  Edith Anderson hatte nicht Unrecht, dass es letztlich das „uralte Patriarchat“ war, das sich gegen ihre Anthologie stellte. Als Kulturredakteurin der kommunistischen Tageszeitung Daily Worker hatte die  jüdisch-amerikanische Journalistin den deutschen Exilanten Max Schröder kennengelernt. Sie war ihm 1947 nach Ostberlin gefolgt, auch weil er sie als Schriftstellerin ermutigte. Unlängst wiedererschienen ist ihr Roman „A Man’s Job“, der scharfsinnig die Strukturen patriarchaler Unterdrückung vor Augen geführt.

Die wird man nicht einfach los per Gesetz. Tief verwurzelt sind jahrhundertealte Verhaltensmuster. Witzig ist es tatsächlich: Wenn sich im Band ein Mann in eine Frau verwandelt, scheint ihm dieser Vorgang erschreckender als umgekehrt. Karl-Heinz Jakobs stellte sich vor, was ein Matriarchat für die schöne Stadt Quedlinburg bedeuten würde. Der Ich-Erzähler in Rolf Schneiders „Meditation“ war ohnehin überzeugt, „unter einer Diktatur des Weibes“ zu leben, muss seine Ansichten aber korrigieren, als er das „Ausgeliefertsein an männliche Überlegenheitsansprüche“ erfährt. Schließlich sieht er keinen anderen Ausweg, als sich in eine Bienenkönigin zu verwandeln, auch weil seine Frau so streitbar mit ihm umgeht.

In Günter de Bruyns Erzählung „Geschlechtertausch“ führt eine Liebesnacht zum Wunsch, aus dem Ich zum Du zu wechseln. Karl wird zu Karla und trifft am Arbeitsplatz sogar auf Mitgefühl und Verständnis. Aber bald wird Kaffeekochen und Blumengießen erwartet. Und „man fand anderes interessanter als mein Fachwissen“. Das schlimmste aber: Seine geliebte Anna will Adam bleiben und betrachtet ihn nun mit „kalten Männeraugen“.  

Ich kannte die DDR-Ausgabe nicht, erinnere mich aber, wie ich von Christa Wolfs Erzählung „Selbstversuch“ hörte und wie wenig neugierig ich war. Dass sich eine Frau zu einem Mann machen lässt, fand ich abseitig. Jetzt merke ich, was alles in diesem  Text steckt: Wagemut einer Wissenschaftlerin, die durch ihre Verwandlung dem anderen Geschlecht auf die Spur kommen will, denn sie ist heimlich in ihren Professor verliebt. Als „Leiterin der Arbeitsgruppe Geschlechtsumwandlung“ lässt sie sich das Medikament „Petersein masculinum“ spritzen und wenig später das Gegenmittel. Sie bekam eine Männerseele, aber das Weibliche in ihr verschwindet nicht.  Als Doppelwesen ist sie „Spion im Hinterland des Gegners“ und hält ihm den Spiegel vor.

In einem ähnlichen Konflikt steckt Alyda die Ich-Erzählerin in Edith Andersons Erzählung „Dein für immer oder nie“. Als Geliebte eines verheirateten Mannes ist sie selbstbewusster als dessen Ehefrau, fühlt sich gleichberechtigt, respektiert und ist doch nicht ganz froh. Würde es ihr als Mann besser gehen? „Wie können Frauen emanzipiert sein, wenn Männer es nicht sind?“  

„Worin besteht der Herrenstandpunkt heute noch?“, fragt Annemarie Auer. In ihrem Essay „Mythen und Möglichkeiten“, interessiert sie sich für matriarchale Strukturen in der Geschichte und führt die Doppelbelastung berufstätiger Frauen ins Feld. Die verschärft sich ja unter heutigen Bedingungen noch. Wie die achtarmige Göttin Durga sollen sie sein: im Beruf bestehen, sich um ihr Äußeres kümmern, alles für die Familie tun, überhaupt Beziehungen pflegen, Kinder aufziehen, für gesunde Ernährung sorgen und für die alten Eltern, im digitalen Getriebe bestehen. Und die Liebe so schön wie im Kino.

Blitz aus heiterm Himmel. Herausgegeben von Edith Anderson. Nachwort Carsten Gansel. Die Andere Bibliothek, 300 S., geb., 48 €.

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