„Der Nachkrieg hat zwei Gesichter“
Von Irmtraud Gutschke
„Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie lächelt mich an. Sie lockt mich, sie schneidet mir Grimassen, sie lallt und flüstert, erinnere dich, stammelt sie, damit du vergessen lernst.“ – Auf poetische Weise nimmt uns Beatrix Langner mit auf eine Erinnerungsreise von Deutschland Ost nach Deutschland West und zurück und zurück. Warum die Eltern aus der DDR geflohen waren? Sie war noch klein und konnte es nicht wissen. Warum sie letztlich nicht glücklich wurden, nachdem es ihnen gelungen war, in einer rheinischen Kleinstadt ein Geschäft zu eröffnen? Die Knopfschachteln, Glasmurmeln, rosa Petticoats , mit Goldflitter bestreute Glanzbildchen sind nur Fundstücke aus einer vergangene Zeit.
Es liegt ein sanft schwebender, sinnender Ton über dem Roman. Als ob die Autorin schreibend fliegen wollte. Was für ein Genuss mochte das gewesen sein. Lesend bekommt man ein Echo davon. Beatrix Langner, 1950 in Berlin geboren, im Rheinland aufgewachsen, 1964 in die DDR zurückgekommen, hat an der Humboldt Universität Germanistik und Anglistik studiert und über Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ promoviert. Sie hat Bücher zum Beispiel über Hölderlin und Diotima, Chamisso, Jean Paul geschrieben, kunstvoll Essayistisches, sogar ein Buch über Kröten ist dabei. „Der Vorhang“, ihr erster Roman, lebt auch von diesem Hintergrund.
Dass eine Frau durch den Tod der Mutter sich selbst finden muss, in ein Erinnern gestoßen wird, in eine Nachdenken und -forschen, ist ein gängiges Motiv in der Literatur. Doch dieser Roman weist über das Gängige hinaus allein schon durch die Stimmung, in die wir beim Lesen gezogen werden. Die Ich-Erzählerin begleitet die sterbende Mutter und erinnert sich. Auf ihrer Reise in die alte westdeutsche Heimat nimmt sie mit, was sie durchdenkt, bedauert und ersehnt. Am Schluss beim Braunkohlentagebau Hambach sieht sie ein Herrenhaus auftauchen, tritt durch die offene Tür. Ein Gespensterschloss voller Verheißungen – Realität und Phantasie vermischen sich, denn Erlebtes und Erwünschtes sind nicht eins. Aber auch nicht streng voneinander getrennt. Vorhänge wehen statt der Türen.
Dabei komme ich nicht umhin, den Titel des Romans auch politisch historisch zu verstehen. Der Vorhang zwischen Ost und West wurde ja eisern genannt. „Der nachkrieg hat zwei gesichter“, heißt es im Buch. Bis heute gibt es derlei Schranken vielerorts auf der Welt. Es gibt ja eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, die in der DDR aufwuchsen und später – ob als Kinder oder Erwachsene – in die BRD übersiedelten. Beatrix Langner kam mit ihrer schwierigen westdeutschen Kindheit in die DDR. Leben zwischen zwei Staaten, zwei Welten, zu denen sich bei ihr eine dritte gesellt – eine riesiges Universum des Geistes, in dem wir lesend zu Gast sein dürfen.
Beatrix Langner: Der Vorhang. Roman. Verlag Matthes & Seitz, 191 S., geb., 24 €.